Ein Land kolonisiert seine eigene Bevölkerung

von Noah Pilloud 11. November 2022

Seit 2016 stellte die Türkische Regierung zahlreiche Städte unter Zwangsverwaltung. Die abgesetzten Volksvertreter*innen flohen ins Exil, beispielsweise nach Bern. Ein Dokumentarfilm erzählt ihre Geschichte.

Mit mindestens dreieinhalb Jahren Haft hätte Nursel Aydoğan rechnen müssen. «Doch mit der AKP an der Macht hast du keine Garantie, dass du danach freikommst», erläutert ihr im Film Gefängnis oder Exil (2021) einer ihrer Bekannten am Telefon. Wie die beiden anderen Protagonisten des Films, wählte die ehemalige Abgeordnete der Halkların Demokratik Partisi (HDP) die Option des Exils.

Der Regisseur Şerif Çiçek erzählt in seiner Dokumentation die Geschichte von drei Politiker*innen, die aufgrund drohender Haftstrafen aus der Türkei geflohen sind: Nursel Aydoğan, Zülküf Karatekin und Fırat Anlı Ihre Geschichten ähneln sich alle. So wurde Anlı, der ehemalige Co-Bürgermeister von Diyarbakır, im Oktober 2016 verhaftet und floh 2017 in die Schweiz, als kurz nach seiner Entlassung erneut ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt wurde. Heute lebt Anlı in Bern.

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Anlı war denn auch zugegen, als die Alternative Linke und die «Plattform für Frieden und Solidarität» den Film letzte Woche im Kino in der Reitschule präsentierten. Gemeinsam mit Regisseur Çiçek sprach der ehemalige Co-Bürgermeister im Anschluss über die aktuelle Situation im Südosten der Türkei. «Es ist wichtig, zu erwähnen, dass neben Politiker*innen auch Intellektuelle, Künstler*innen, NGOs und eigentlich die gesamte kurdische Bevölkerung unter Druck gesetzt werden», betonte er.

Demokratie, die nicht sein durfte

Durch die Erzählungen seiner Protagonist*innen und Fernsehbilder zeichnet Şerif Çiçek nach, wie dieser Druck auf progressive Kräfte seit 2016 schlagartig zunahm. Damals verabschiedete das Parlament eine Verfassungsänderung, die es ermöglichte, die Immunität von Parlamentarier*innen aufzuheben. In der Folge wurden vor allem Politiker*innen der HDP verurteilt und abgesetzt.

Yeşim Ekici moderierte das Diskussion mit Şerif Çiçek (rechts) und Fırat Anlı (links), für den Hasim Sancar (ganz links) übersetzte. (Foto: Noah Pilloud)

Viele von der HDP regierten Gemeinden wurden anschliessend von der türkischen Regierung unter Zwangsverwaltung gestellt. «Diese Zwangsverwaltung ist ein kolonialistisches Instrument und befindet sich ausserhalb des Rechtsstaats», merkte Fırat Anlı während der Diskussion an. Viele progressive und radikaldemokratische Errungenschaften der HDP seien durch die Zwangsverwalter rückgängig gemacht worden.

Der Film zeigt eindrücklich auf, wie die HDP und weitere prokurdische Parteien diese Errungenschaften auf lokalpolitischer Ebene seit den Neunzigerjahren Schritt für Schritt erzielt hatten. Und wie das jahrzehntelange Engagement für Gleichstellung und Demokratie von der türkischen Regierung in wenigen Jahren zunichte gemacht wurde. «Der Kampf wird aber weitergeführt», meint Anlı zum Schluss, ob aus dem Gefängnis oder dem Exil.