Seine Emotionslosigkeit kontrastierte Beat Rieder (CVP) mit drastischen Worten, als er am 11. Juni 2018 im Ständerat eine Erklärung der Mehrheit der Rechtskommission verlas. Es brauche jetzt eine Antwort des Staates, wenn er das Gewaltmonopol nicht verlieren wolle. Rieder verwies auf den G20 Gipfel in Hamburg und auf Demonstrationen in Bern. Die Verurteilungen für Landfriedensbruch hätten seit 1984 stark zugenommen (tatsächlich sind sie seit wieder 2011 rückläufig). Rieders Motion sah deshalb vor, die Mindeststrafe für Landfriedensbruch auf Geldstrafe und Gefängnis zu erhöhen. Des Landfriedensbruchs macht sich strafbar, wer an einer öffentlichen Zusammenrottung teilnimmt, bei der mit vereinten Kräften gegen Menschen oder Sachen Gewalttätigkeiten begangen werden. Dass die beschuldigte Person selber Gewalttaten begangen hat, ist nicht Voraussetzung.
Das Erwachen der ArbeiterInnebewegung
Drehen wir die Uhr zurück. Am 7. Januar 1895 tagte eine aus Richtern, Anwälten, Professoren und Beamten bestehende Expertenkommission. Sie beriet den Vorentwurf zum ersten schweizerischen Strafgesetzbuch, denn noch war jeder Kanton selber für sein Strafrecht zuständig. Xaver Gretener, Rechtsprofessor an der Universität Bern, wollte nach dem Vorbild des Strafgesetzbuches des deutschen Kaiserreichs den Landfriedensbruch[1] einführen. Bei Ausschreitungen einer Volksmenge falle es ungemein schwer den einzelnen TeilnehmerInnen nachzuweisen, was sie verübt haben, argumentierte Gretener. Wenn eine Straftat im Rahmen einer Kundgebung verübt würde, dann könnten andere Tatbestände zu deren Ahndung herangezogen werden, entgegneten Greteners Gegner. Die Einführung des Landfriedensbruchs würde zu einer doppelten Bestrafung führen.
Die Expertenkommission, ganz besonders Gretener, stand dabei unter dem Eindruck eines Krawalls, der zwei Jahre zuvor in Bern stattgefunden hatte. Um den sogenannten «Käfigturmkrawall» und seine Hintergründe zu verstehen, bedarf es der Kenntnis der damaligen Situation der ArbeiterInnenbewegung.
1889 tagte in Paris der internationale Arbeiter-Kongress, dessen zentrale Forderung der Achtstundentag war und der dazu aufforderte, jedes Jahr am 1. Mai dafür zu demonstrieren. Ein Jahr später fiel im Nachbarsland Deutschland das bismarcksche «Sozialistengesetz», dessen repressive Wirkung sozialistische, kommunistische und sozialdemokratische Arbeit jahrelang in den Untergrund verbannt hatte. «Was diese beiden Ereignisse damals bedeuteten, vermag die lebende Generation bestenfalls nur noch zu ahnen», schreibt der Gewerkschaftshistoriker Eduard Weckerle. Die ArbeiterInnenbewegung war europaweit im Erwachen und selbst in der Schweiz, wo die Bewegung noch in den Kinderschuhen steckte, tat sich etwas. So gelang zum Beispiel den ArbeiterInnen in der Maschinenindustrie schon 1890 die Durchsetzung des Zehnstundentags.
Die Situation der Baubranche in Bern war zu dieser Zeit – trotz guter Auftragslage – prekär. Die Abreitlosigkeit war hoch und mit den extrem tiefen Löhnen liess es sich kaum menschenwürdig leben. Kommt dazu, dass die Unternehmer oft italienische Bauarbeiter zu noch tieferen Löhnen anstellten, was die Situation für die einheimischen Bauarbeiter zusätzlich verschärfte und deren Wut gegen die Italiener anfachte. Klar ist indessen, dass hierbei auch Fremdenfeindlichkeit eine Rolle spielte. Der sogenannte «Handlangerbund» verabschiedete im Juni 1893 schliesslich eine Resolution mit vier Forderungen:
1. Einen Mindestlohn von 33 Rappen pro Stunde
2. Eine 14 tägige Kündigungsfrist
3. Den Zehnstundentag
4. Der Zugang von auswärtigen Arbeitskräften sei zu unterbinden, solange sich genug einheimische Arbeitskräfte finden.
Damit sollte den Bauunternehmen Hand geboten werden, den Konflikt friedlich beizulegen. Doch noch vor der Beratung der Resolution sollte sich die Wut der ArbeiterInnen auf der Strasse entladen.
60 wütende Arbeiter im Kirchenfeld
Am Samstag dem 17. Juni 1893 erschien im Berner Stadtanzeiger zwischen Ankündigungen der Knabenmusik Bern und der Reismuskaten-Schützengesellschaft ein anonymes Inserat. Später stellte sich heraus, dass es von einem arbeitslosen Bauarbeiter aufgegeben wurde. Das Inserat forderte zu einer Maurer-und Handlangerversammlung am Montag 19. Juni um 1 Uhr auf. Diesem Aufruf folgten zunächst nur rund zwanzig Leute. Niemand der Versammelten, von denen die meisten arbeitslose Bauarbeiter waren, wusste, was geplant war. Einer von ihnen, Aebi, ergriff schliesslich das Wort und schlug vor, auf die verschiedenen Baustellen des Kirchenfelds zu marschieren und dort auf den Baustellen gegen die beschäftigten Italiener zu demonstrieren. Es kam zu einer Abstimmung unter den Anwesenden, die zugunsten von Aebis Vorschlag ausging. Der Demonstrationszug, der mittlerweile auf rund sechzig Personen angewachsen war, bewegte sich ins Kirchenfeldquartier.
Dort angekommen blieb es nicht beim friedlichen Protestieren. Zwischen den einheimischen und italienischen Bauarbeitern kam es zu Handgreiflichkeiten und das obwohl die Polizei die Italiener zuvor gewarnt und sich anschließend in der Nähe der Baustellen versteckt hatte. Erst als die Gewalt zu eskalieren drohte, schossen die Polizisten aus ihren Verstecken, nahmen rund 17 Demonstrierende fest und brachten sie in den Käfigturm, der damals noch als Polizeigefängnis diente.
Revolverschüsse aus dem Käfigturm
Schon kurze Zeit später formierte sich vor dem Käfigturm eine Meute, die die Freilassung der gefangengenommenen Arbeiter forderte. «Vermutlich hätte sich die Menge bei einigem guten Zureden seitens der Behördenvertreter auch wieder von selbst zerstreut», schreibt Weckerle. Doch die Polizei verfolgte eine andere Strategie. Statt deeskalierend einzuschreiten, drängte sie die Menschen mit Hilfe der Feuerwehr, die Wasser in die Menge spritzte, zurück. Daraufhin deckten einige Personen die Beamten mit Beschimpfungen ein, manche Warfen sogar Steine. Trotzdem gelang es der Polizei, die Situation unter Kontrolle zu bringen, sodass sie um 20:00 Uhr wieder abziehen konnte.
Doch kurz nachdem die Polizei verschwunden war, wurde die Erregung wieder grösser. Erneut warfen aufgebrachte Menschen Steine gegen den Turm und schlagen damit unzählige Scheiben ein. Einige drängten sogar zur Eingangstür, wohl um sie aufzubrechen. Die Polizei rückte deshalb bis 23:00 noch zwei weitere Male an, doch diesmal trat sie weitaus aggressiver auf: Mit gezogenem Säbel marschierte sie durch die Marktgasse und das Waaghausgässchen wurde «mit blanker Waffe geräumt». Aus dem Käfigturm schossen die Landjäger, ein spezielles Korps der Polizei, mit ihren Revolvern manchmal in die Luft, manchmal aber auch in die Menschenmenge. Ein vorbeigehender Reisender kommentierte gemäss eines Augenzeugen knapp: «Da geits ruch zue», und in den folgenden Tagen wurde die Polizei selbst von der bürgerlichen Presse für ihr brutales Vorgehen und die willkürlichen Verhaftungen – am Ende des Abends waren es 74 – kritisiert. Kurz nach Mitternacht rückten auf Bitte des Stadtpräsidenten – der eigentlich nicht dafür zuständig gewesen wäre – 63 Artilleristen der Schweizer Armee aus Thun und am nächsten Morgen auch noch ein Luzerner Rekrutenbataillon ein. Schliesslich beruhigte sich die Situation.
Die wiederbelebte Debatte
Das politische Erbe dieser einschneidenden Nacht findet sich heute im Artikel 260 des Strafgesetzbuches. Die Expertenkommission, in der sich auch Greneter befand, empfahl zwei Jahre nach dem «Käfigturmkrawall» die Verschriftlichung des Landfriedensbruchs ins erste eidgenössische Strafgesetzbuch. Es dauerte weitere 47 Jahre bis des neue Gesetzbuch schliesslich in Kraft trat. Gretener, der Vater des Landfriedensbruchs, erlebte seinen Triumph nicht mehr mit, er starb 1933 im Alter von 81 Jahren in Breslau im heutigen Polen.
Die Debatte um den Landfriedensbruch ist mit Rieders Motion, die übrigens im Ständerat angenommen wurde, wiederbelebt worden. Die Kritik daran richtet sich einerseits direkt gegen die Motion, andererseits gegen den Tatbestand Landfriedensbruch an sich. Andrea Caroni (FDP) gab beispielsweise zu bedenken, dass bei der Annahme die Mindeststrafe für Landfriedensbruch, ein Tatbestand der auch friedliche Demonstrierende treffen kann, höher läge als jene für eine fahrlässige Tötung. Grundsätzliche Kritik am Landfriedensbruch findet sich insbesondere auch in der Rechtslehre. So kritisierte der Berner Strafrechtsprofessor Hans Vest schon 1988, damals noch als Anwalt in Basel, dass mithilfe des Landfriedensbruchs Personen als Sündenböcke für aus einer Masse heraus begangenen Straftat herhalten müssten. «Gelingt es den Ermittlungsbehörden nicht, die der eigentlichen Gewalttätigkeiten Verdächtigen festzunehmen, so gestattet Art. 260 StGB (Anm. d. Red. Landfriedensbruch) eine stellvertretende Haftung ihres Umfelds», argumentierte Vest.
Und was ist dem Käfigturmkrawall für die aktuelle Debatte abzugewinnen? Der Krawall ist als Ausdruck der Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden Selbstermächtigung der ArbeiterInnen zu verstehen – eine Entwicklung, die nicht nur positiv aufgenommen wurde. Die Obrigkeit hatte bisher von der schlechten Vernetzung der ArbeiterInnenschaft und der kompromisslosen Repression sozialistischer und sozialdemokratischer Anliegen profitiert. Gretener und die Expertenkommission waren sich dessen bewusst. Auch war ihnen klar, dass der Landfriedensbruch ein geeignetes Instrument war, um unliebsame Oppositionelle kleinzuhalten und damit zur Konservierung des status quo beizutragen. Emil Zürcher, Rechtsprofessor und Teil der Expertenkommission bemerkte diesbezüglich: «Die Bestimmung über Landfriedensbruch wird jeweilen bei Streiken gegenüber den ausständischen Arbeitern, welche ihre Genossen zum Anschluss an den Streik zu bewegen oder von der Wiederaufnahme der Arbeit abzuhalten suchen, angerufen und angewendet werden». Die Bestimmung richte sich also im Grunde gegen eine bestimmte Bevölkerungsklasse. «Sie ist mir schon deshalb unsympathisch», sagte Zürcher knapp. An Emil Zürchers Votum und den Käfigturmkrawall sollte man sich spätestens während der kommenden Wintersession erinnern, dann wird der Nationalrat über Rieders Motion befinden.