Ein Kollektiv wird erwachsen

von Nicolas Eggen 13. August 2024

Sommerserie: Phänomen Kollektive Die Heitere Fahne hat in den vergangenen Jahren eine Neuorientierung hin zu klareren Organisationsstrukturen vollzogen. Von Planetensystemen, Ground Control und einem klassischen Vorstand.

Das Kollektiv Frei_Raum, zu dem auch die Heitere Fahne gehört, ist aus der Berner Kulturszene nicht mehr wegzudenken. Seit 15 Jahren veranstaltet es diverse inklusive Theater und Kulturveranstaltungen. «Der inklusive Aspekt stand beim Kollektiv schon von Anfang an im Zentrum, viele der Gründungsmitglieder kamen aus dem Sozialen oder aus dem Kulturbereich und wollten die zwei Sachen verbinden», erklärt Andri Tuor, der seit rund drei Jahren im Kollektiv arbeitet.

Das Ursprungsprojekt des Kollektivs war das Säbeli Bum, ein inklusives Musik- und Theaterfestival, bei dem Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam ein Festival veranstalten – vor, hinter und auf der Bühne. Die erste Ausgabe war 2009 und das Festival findet seither jährlich statt. Durch das Säbeli Bum lernte Milva Stark das Kollektiv kennen. Sie ist Schauspielerin und seit diesem Jahr neugewähltes Vorstandmitglied des Kollektivs.

Das erste Projekt des Kollektivs war das Säbeli Bum, ein inklusives Musik- und Theaterfestival (Foto: Kollektiv Frei_Raum).

Das Kollektiv bespielte anfangs verschiedene Orte, suchte nach einem fixen Ort, bis sie bei einem Spaziergang die leerstehende Wirtschaft der Gurtenbrauerei entdeckten. «Hier in Wabern hat alles mit dem ersten Gugus Gurte vor elf Jahren angefangen», erzählt Andri. «Die Miete für das Haus musste damals ein halbes Jahr im Voraus bezahlt werden, da kam die Idee eines Benefiz-Festivals während des Gurtenfestivals auf», ergänzt Milva, «viele Berner Künstler*innen liessen sich von der Idee begeistern und mit dem Umsatz des Gugus Gurte konnte das Kollektiv dann die Miete bezahlen».

Das Gugus Gurten im Jahr 2019 (Foto: Kollektiv Frei_Raum).

Rund 90 kulturelle Vorstellungen gibt es nun pro Jahr in und ausserhalb der Heitere Fahne. Von der Disco übers Theater bis zum Flirtkurs, das Angebot ist vielfältig und meistens auf Kollektenbasis, um möglichst niemanden auszuschliessen. Nach dem Motto: Wer mehr hat, gibt mehr. Wer wenig hat, gibt wenig. Wer nicht bezahlen kann, kommt trotzdem rein.

Professionalisierung und Vorstand

In diesem Jahr hat das Kollektiv einen neuen Vorstand gewählt. Das ist das Ergebnis eines langen und anspruchsvollen Prozesses der Neuorientierung, der in den letzten Jahren stattgefunden hat. Das Kollektiv ist kontinuierlich gewachsen, mehr Leute, mehr Arbeit, mehr Überstunden, mehr Stress.

«Einigen im Kollektiv machte diese Entwicklung Sorgen und manchen wurde es zu viel. Es gab auch emotionale Diskussionen, deshalb haben wir uns dafür entschieden, mit einem externen Mediator diesen Neuorientierungsprozess zu durchlaufen», erinnert sich Andri an diese Zeit zurück. Damals begleitete der Dokumentarfilmer Christian Knorr das Kollektiv. Die daraus entstandene Doku «Heitere Fahne» gibt einen spannenden Einblick in das Innenleben des Kollektivs während dieser bewegten Zeit.

Inklusion in der Heitere Fahne bedeutet, dass alle sich gegenseitig im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützen

«Einige Leute haben das Kollektiv nach der Umstrukturierung verlassen. Es war eine schwierige Zeit. Wir haben aber als Kollektiv gemerkt, dass wir eine klarere Struktur brauchen und die Ressourcen richtig zuordnen müssen, um nachhaltig weitermachen zu können», fasst Andri zusammen. «Überall dort, wo Menschen mit Idealismus und Herzblut an einer Sache arbeiten, sind sie auch sehr emotional daran beteiligt. Da ist es normal, dass dabei Auseinandersetzungen entstehen. Um als Kollektiv erwachsen zu werden, ist eine Professionalisierung mit klaren Strukturen ein wichtiger Prozess», erklärt Milva.

Die Heitere Fahne in Wabern (Foto: Nicolas Eggen).

Deshalb besteht der neue Vorstand nun mehrheitlich aus externen Personen, die nicht direkt im Kollektiv dabei sind und so weniger emotional mit der Sache verbunden sind. «Momentan definieren wir gerade die genauen Aufgaben und Kompetenzen des Vorstands. Es ist ein sehr spannender Prozess», so Milva.

Der Vorstand befinde sich zurzeit noch in einer Übergangsphase. Heisst: Es gibt noch Kollektivmitglieder im Vorstand, aber keine Doppelrollen mehr auf Projektleitungsebene, um Interessenskonflikte zu vermeiden. «Später werden es dann nur noch externe Leute sein. Alle aus dem Vorstand haben aber eine gewisse Verbindung zum Kollektiv und bringen Know-How in den verschiedenen Bereichen Inklusion, Kultur oder Gastro mit», erklärt Milva weiter.

Hierarchische Strukturen in der Heitere Galaxie

Einen ganz traditionellen, hierarchischen Anstrich wollte sich die Heitere aber dann doch nicht geben, oder es jedenfalls nicht so benennen. Die verschiedenen Betriebsbereiche heissen bei der Heitere Fahne Planeten. Sechs solcher Planeten gibt es im Kosmos der Heitere: Kultur, Küche, Herz (Gastronomie, Ausbildung, Inklusion), Büro, Konfetti (Eventmanagement) und Grümpel (Infrastruktur, Technik, Deko).

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Die Planeten organisieren sich und arbeiten in ihren Bereichen selbstständig. Für sozialarbeiterische Begleitung und Themen ist die Sozialraumstation zuständig, wobei Inklusion in der Heitere Fahne bedeutet, dass alle sich gegenseitig im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützen. Übergeordnete und strategische Entscheide obliegen der Groundcontrol – bei einem konventionellen Betrieb würde man wohl von einer Geschäftsleitung sprechen – in Zusammenarbeit mit dem neuen Vorstand.

Ein weiterer Teil des Erwachsenwerdens ist, dass die Heitere Fahne dieses Jahr als Kulturinstitution von regionaler Bedeutung ausgezeichnet wurde.

«Dieses Planetensystem funktioniert bisher gut. Wir haben nun eine klar definierte Rollenteilung. Ich empfinde diese neuen Strukturen als Hilfe», meint Andri dazu. Zurzeit arbeiten etwa 35 Personen als Festangestellte beim Kollektiv, die meisten aber ohne schriftlichen Arbeitsvertrag, wie es bei der Idealistenkiste – so nennt sich die Heitere auch –­ übrigens normal ist. «Wer einen schriftlichen Vertrag will, bekommt diesen selbstverständlich auch», sagt Andri. Eine mündliche Vereinbarung sei aber schliesslich auch bindend und im Kollektiv gäbe es grundsätzlich ein freundschaftliches und vertrauensvolles Verhältnis zueinander.

Planungssicherheit und Heitere Tod

Ein weiterer Teil des Erwachsenwerdens ist, dass die Heitere Fahne dieses Jahr als Kulturinstitution von regionaler Bedeutung ausgezeichnet wurde. Damit erhält das Kollektiv Kulturfördergelder für die nächsten vier Jahre. Es besteht ein Leistungsvertrag mit dem Kanton, der Stadt Bern, der Gemeinde Köniz sowie der Regionalkonferenz Bern-Mittelland. «Das gibt uns längerfristige Planungssicherheit», sagt Andri.

«Ich finde es sehr spannend zu sehen, das immer wieder Neues entsteht, neue Ideen entwickelt werden und das Kollektiv so in Bewegung bleibt», findet Milva. Zwei der Gründungsmitglieder arbeiten momentan am Projekt Heitere Tod. Geplant ist ab Ende August eine partizipative Sarg-Werkstatt in der Quartierwerkstatt Tscharnigut. Dort sollen kunstvolle Särge entstehen, um so das Tabuthema Tod in die Gesellschaft zu tragen. Für Milva und Andri ist beide klar: Die Heitere Fahne soll ein Begegnungsort bleiben, der für alle Menschen offen ist und auch in Zukunft Raum für neue Ideen bietet.