Ein Knochenjob

von Dimitrij Gawrisch 28. Februar 2024

Ukraine Seit Dmitrij Gawrisch 1993 nach Bern kam, muss er der Welt sein Heimatland erklären. Diese Aufgabe ist jetzt wichtiger denn je. Dabei sehnt der Autor den Tag herbei, an dem er seine Arbeit als Botschafter der Ukraine beenden kann.

Seit mittlerweile drei Jahrzehnten arbeite ich als Botschafter der Ukraine. Ich hatte nie ein Vorstellungsgespräch, habe nie einen Arbeitsvertrag unterschrieben, werde dafür auch nicht bezahlt – ich bin, wenn man so will, durch Geburt und Geschichte irgendwie auf diesen Posten gerutscht, wie viele andere auch.

Ich bin nicht so schnell aus der Fassung zu bringen, selbst wenn mein Innerstes brodelt, lächle ich, und ein paar Sprachen spreche ich fliessend. Was mich sonst noch für den Job qualifiziert: Meine Eltern gehörten in den Neunzigern zu den ersten Diplomaten der Ukraine, und weil mein Stammbaum von Lehrerinnen und Lehrern wimmelt, wurde mir das Erklären und Vermitteln quasi in die Wiege gelegt.

Als ich mit elf Jahren aus dem Millionenmoloch Kyjiw 1993 ins beschauliche Bern kam, wurde ich von Klassenkameraden gefragt, wo ich denn herkäme – viele Gleichaltrige hatten von der Ukraine noch nie gehört.

Die Arbeit ist abwechslungsreich, zu tun gibt es reichlich, denn viele Jahre lang war die Ukraine ein unbeschriebenes Blatt. Als ich mit elf Jahren aus dem Millionenmoloch Kyjiw 1993 ins beschauliche Bern kam und in eine der damaligen Ausländerklassen gesteckt wurde, um Deutsch zu lernen, wurde ich von Klassenkameraden natürlich gefragt, wo ich denn herkäme – viele Gleichaltrige hatten von der Ukraine noch nie gehört.

Bereitwillig gab ich Auskunft: flächengrösstes Land, das komplett in Europa liegt, und entsprechend vielseitig, mehrere Klimazonen, von kontinentalem Klima im Norden mit kalten Wintern und heissen Sommern bis zu subtropischen Palmen auf der Krym, 52 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, das drittgrösste Atomwaffenarsenal der Welt.

Das machte Eindruck, wir unterhielten uns weiter, und immer nahm das Gespräch den Verlauf, dass ich früher oder später erklären musste: Nein, Ukraine und Russland gehörten zwar früher gemeinsam zur Sowjetunion, aber nun ist die Ukraine ein eigenständiges Land, beim ersten freien Referendum 1991 haben über 92 Prozent der Stimmberechtigten für eine unabhängige Ukraine gestimmt – ein fast schon diktatorisch hoher Zustimmungswert für Freiheit und staatliche Souveränität, würde ich heute hinzufügen, von dem Putin nur träumen kann, egal wie viele Kriege er noch anzettelt.

Wo ich als Botschafter meines Geburtslandes keine gute Figur machte, war in Gesprächen mit Russinnen und Russen.

Nein, die ukrainische Sprache ist kein Dialekt der russischen, sie sind zwar verwandt, klingen aber völlig verschieden, haben eigene Grammatiken und sich unterscheidende Alphabete – und würde heute, nach vielen Reisen, hinzufügen, dass man in Ländern Mittelosteuropas mit den weichen ukrainischen Konsonanten sogar weiter käme als mit den harten russischen.

Nicht alle Gespräche liefen glatt, vor allem als ich älter wurde. Wo ich als Botschafter meines Geburtslandes keine gute Figur machte, war in Gesprächen mit Russinnen und Russen. Immer wieder im Laufe der Jahre haben sie mich, stets ungefragt, mit ihren Meinungen zur Ukraine überschüttet. Sowas wie eine Ukraine habe es im Laufe der Geschichte nie gegeben! Russen und Ukrainer seien historisch gesehen ein Volk! Wir hätten euch die Zivilisation gebracht, ohne uns würdet ihr noch immer auf Bäumen leben! Das alles hörte ich von Kommilitoninnen während des Studiums, von zufälligen Mitreisenden in Nachtzugabteilen, auf Podien von Literaturfestivals, bei feuchtfröhlichen Theaterpremierenfeiern, überall dort, wo ich meine ukrainischen Wurzeln freilegte.

Sie bemühten sich nach Leibeskräften, meine Existenz abzustreiten, aber ich wurde den Eindruck nicht los, dass dabei ihre Existenz irgendwie auf dem Spiel stand.

Was all diese Menschen, die mir meine Identität absprechen wollten, gemeinsam hatten: Sie waren allesamt enorm gebildet, Wissenschaftlerinnen, Journalisten, Schriftsteller, sie warfen mit (russischen) Gelehrtennamen nur so um sich, die ich natürlich noch nie gehört hatte, sie zitierten, beharrten, steigerten sich bisweilen auch so rein, dass ihre Köpfe rot aufglühten und sie verzweifelt nach Luft rangen.

Sie bemühten sich nach Leibeskräften, meine Existenz abzustreiten, aber ich wurde den Eindruck nicht los, dass dabei ihre Existenz irgendwie auf dem Spiel stand. Trotzdem liess ich mich von diesem Wissen, mit dem sie mich wie mit faulen Tomaten bewarfen, einschüchtern. Ich kam nie dazu zu fragen: Weshalb ist die Ukraine ein rotes Tuch für euch, warum könnt ihr sie, uns, mich nicht einfach in Ruhe lassen?

2014 verfinsterte sich die Stimmung, die Botschaften, die man abzusetzen hatte, wurden direkter, auf einmal ging es nicht mehr um schöngeistige Spielereien und Wortklaubereien, sondern unmittelbar um Leben und Tod. Nein, natürlich nicht, beantwortete ich bei einer Pressekonferenz anlässlich einer Festivaleröffnung im russischen Kasan kurz und knapp die Frage eines Journalisten – er wollte wissen, ob es auf der Krym, wo meine Verwandten herkommen, die ich wenige Monate vor der Besetzung und Annexion durch Russland besucht hatte, abspalterische Stimmungen gegeben habe (der Journalist lächelte verschmitzt, natürlich hat er es selbst gewusst).

Und immer wieder die Sprachenfrage: Nein, natürlich werden Russischsprachige in der Ukraine nicht diskriminiert, das halbe Land spricht Russisch (oder Surzhyk, eine ukrainisch-russische Mischsprache), Russisch war damals in vielen Regionen offizielle Regionalsprache, ich bin selbst russischsprachig aufgewachsen, ich hatte nie Angst, es in der Ukraine zu sprechen, sogar in Lwiw, der Hochburg des Ukrainischen, wenn man will, habe ich auf der Bühne Russisch gesprochen. Insofern ein klares und deutliches Nein: Die ukrainischen Russischsprachigen sind nicht bedroht, sie brauchen keinen Schutz, von niemandem. Und ausserdem sprechen alle nach 1960 Geborenen in der Ukraine, die eine Schule dort besucht haben, bestens Ukrainisch.

Sind wir denn immer noch ein unbeschriebenes Blatt, dass ihr Russland laviert und uns im Stich lasst?

Nein, natürlich kann eine Handvoll Separatisten im Osten keinen jahrelangen blutigen Krieg gegen ein ganzes Land führen ohne Unterstützung vom grossen Nachbarn. Deswegen erfolgte der Angriff Russlands auf die Ukraine auch nicht erst im Februar 2022, sondern bereits im Februar 2014, kurz nach den Olympischen Winterspielen in Sotschi.

Wenn man es genau nimmt, jährt sich der Krieg die Tage also nicht zum zweiten, sondern bereits zum zehnten Mal. Und wie reagierte die demokratische Welt- und Wertgemeinschaft auf diesen Angriff? Statt Russland damals schon mit echten, wirksamen Sanktionen in die Schranken zu weisen, baute man neue Pipelines, um noch mehr Erdgas aus Russland zu beziehen und dessen Kriegskasse weiter zu füllen. Das hat sich ins kollektive Gedächtnis der Ukrainerinnen und Ukrainer eingebrannt: Sind wir denn immer noch ein unbeschriebenes Blatt, dass ihr Russland laviert und uns im Stich lasst?

Wenn man es genau nimmt, jährt sich der Krieg die Tage also nicht zum zweiten, sondern bereits zum zehnten Mal.

Trotzdem habe ich den grossflächigen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 nicht kommen sehen: Die Krym, habe ich gedacht, würde den Russen reichen, und die Panzer im Donbas, dieser blutige Dorn im Fuss der ukrainischen Souveränität, würden durch ihre Anwesenheit sicherstellen, dass die Ukraine nicht versucht, ihre subtropische Klimazone mit Gewalt zurückzuholen.

Wer es schon immer gewusst hat, ist mein Grossvater mütterlicherseits. «Ja sind wir denn irre?!», tobte er, als die Ukraine sich 1994 bereit erklärte, im Austausch für die Wahrung ihrer Grenzen ihre Atomwaffen an Russland abzugeben. «Haben wir denn immer noch nicht kapiert, wem wir sie überlassen?» Er wusste, wovon er sprach, einige der besagten Waffen hat er mitentwickelt und miterprobt, und obwohl gebürtiger Kyjiwer hat er sich selbst zeitlebens als Russe empfunden und deren Denkmuster gekannt.

Der offen tobende Krieg mit Hunderttausenden Toten und Verletzten, mit Millionen Vertriebenen (überwiegend russischsprachigen Ukrainerinnen und Ukrainern), mit Zehntausenden verschleppten Kindern macht meinen Job noch einmal härter, noch einmal wichtiger, noch einmal trauriger.

Nein, sage ich – auf Russisch – zu meinem mittlerweile zehnjährigen Sohn, mit dem aus Überforderung und Ohnmacht die Phantasie durchgeht, in Europa wurde die Todesstrafe aus gutem Grund abgeschafft, das gilt auch für Putin und seine Helfer, für ihre Verbrechen gehören sie vor Gericht gestellt – auch wenn ich mir selbst oft genug das Gegenteil ausmale. Ich bringe ihm bei, ruhig zu bleiben und die betreffenden Klassenkameraden sachlich zu fragen, weshalb sie in der Schule keine Schweigeminute für die Toten der Ukraine abhalten wollen, weshalb die Ukraine auch für manche von ihnen inzwischen ein rotes Tuch sei.

Nein, meinen vor russischen Bomben geflohenen Eltern geht es nicht gut, obwohl sie in Deutschland bei ihren Kindern und Enkeln sind, obwohl sie perfekt Deutsch sprechen, obwohl sie körperlich unversehrt sind. Was ihnen fehle? Eine Perspektive. Sie wollten ihren Lebensabend nicht in einer kleinen Kellerwohnung mit feuchten Wänden in der süddeutschen Provinz verbringen. Mein Vater hat von allen Menschen, die ich kenne, den grünsten Daumen, jeden Samen, den er irgendwo auflas, drückte er in die Erde, und daraus wucherte ungeahntes Grünzeug hervor, die Kyjiwer Wohnung meiner Eltern glich einem Urwald – bis auf die Kakteen ist diese ganze Vegetation nun tot.

Wie sein Vater wollte er im Alter Bienen halten, bald wäre es soweit gewesen, aber dann kamen die russische Raketen. Vor einigen Monaten wollte es meine Mutter noch einmal wissen, mit bald 67, und hat eine Bewerbung an eine örtliche Schule geschrieben, als Deutschlehrerin für Integrationsklassen. Es kam eine freundliche Absage mit Hinweis auf fehlende Qualifikation – sie ist eine in Berlin studierte und promovierte Germanistin, die jahrelang im Goethe-Institut in Kyjiw Deutsch unterrichtet hat.

Für meine grösste Gewissenskrise sorgte die Frage der Waffenlieferungen. Waffen töten. Aber den Angegriffenen Mittel zur Selbstverteidigung vorenthalten? Waffen töten. Aber die Opfer durch Nichthelfen zum Einlenken zwingen wollen, nur weil man sich selbst vor dem Angreifer fürchtet? Waffen töten. Genau, Waffen töten, russische Waffen auch, dachte ich dann irgendwann, und wenn die Hunderttausenden Russen, die in der Ukraine gefallen sind, von Anfang an ihre Waffen gegen diejenigen gerichtet hätten, die sie in diesen sinnlosen Krieg getrieben haben, statt gegen die Ukrainer, dann wäre dieser Krieg tatsächlich nach drei Tagen vorbeigewesen, sie wären noch am Leben – und nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland heute ein anderes Land.

Für meine grösste Gewissenskrise sorgte die Frage der Waffenlieferungen.

Womöglich wären sie auch noch am Leben, wenn die Ukraine von Anfang an die komplette Unterstützung bekommen hätte, um die sie gebeten hatte, und damit wirklich in der Lage gewesen wäre, die Angreifer schnell in die Flucht zu schlagen statt einen Zermürbungskrieg führen zu müssen. Ganz sicher wären sehr viele ukrainische Männer und Frauen noch am Leben, die den Mangel an Ausrüstung durch ihre Körper ausgleichen mussten – ja, Waffen töten, aber sie retten auch Leben.

Dieser Job als Botschafter ist anstrengend, ein Knochenjob, er erfordert viel Geduld, man muss sich ständig erklären, wiederholen, und oft genug fühlt er sich wie ein Kampf gegen Windmühlen an: Ich erzähle hier kaum etwas Neues, und doch habe ich den Eindruck, es immer wieder tun zu müssen, nicht aufhören zu dürfen. Weil die Unterstützung für die Ukraine, die Solidarität mit den Angegriffenen im Westen bröckelt oder innenpolitischen Raufereien zum Opfer fällt.

Weil noch immer die russische Propaganda greift, ich, kein Witz, noch immer gefragt werde, ob die Ukraine in Wirklichkeit nicht doch ein Nazinest sei, wie Putin und seine Schergen behaupten (die Partei Swoboda, die am ehesten Ähnlichkeiten mit gewissen zweistellig im Parlament in Deutschland, Österreich und der Schweiz vertretenen Kräften aufweist, erhielt bei der jüngsten ukrainischen Parlamentswahl 2019 nur etwas über 2 Prozent der Stimmen und ist damit deutlich an der 5-Prozent-Hürde gescheitert). Weil ständig eine Täter-Opfer-Umkehr geschieht, irgendwelchen Osterweiterungen die Schuld am russischen Einmarsch in der Ukraine gegeben wird.

Nach 33 Jahren ukrainischer Unabhängigkeit, nach zehn Jahren Krieg, nach zwei Jahren Angriffskrieg denke ich manchmal an die Szene aus Forrest Gump zurück, als Tom Hanks, nachdem er zwischen dem Atlantik und dem Pazifik hin und her gerannt ist, plötzlich anhält und sagt: «Ich bin müde, sehr sogar. Ich glaube, ich gehe wieder nach Hause.» Der Haken ist nur: 43 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer haben kein Zuhause, in das sie zurückkehren könnten, wo sie sicher sind – jeder Luftalarm könnte der letzte sein.

Deswegen mache ich weiter, machen wir alle weiter, etwas Anderes ist mit dem Gewissen auch nicht zu vereinbaren. Aber ich sehne den Tag herbei, wenn meine Arbeit endlich getan sein wird und ich meinen Job als Botschafter meines Geburtslandes an den Nagel hängen kann. Ich male mir aus, dass die Ukraine dann endlich so fest in sämtlichen Köpfen verankert sein wird, dass man sie nicht mehr erklären muss und auch nicht mehr verteidigen. Vielleicht schaffe ich mir dann Bienen an, wer weiss.

Dieser Beitrag erschien zuerst beim Magazin Reportagen (#75, März 2024).

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