Ein kleines musikalisches Wunder

von Ueli Althaus 11. April 2024

Musik Das Swiss Jazz Orchestra wurde vor zwanzig Jahren in Bern gegründet und blickt auf eine erfolgreiche Zeit zurück. Eine Rückschau von Gründungspräsident Ueli Althaus.

Das «Swiss Jazz Orchestra», kurz SJO, ist gerade mal dem Teenageralter entwachsen. Trotzdem: dass dieses Ensemble auch nach zwanzig Jahren jeden Montagabend – mit Ausnahme der Sommerpause – ein Konzert bestreitet, darf als kleines Wunder bezeichnet werden.

Vision an einem Sommerabend

Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen, wie George Robert, der damalige Leiter der Swiss Jazz School, an einem Sommerabend des Jahres 2003 von seiner Vision schwärmte: Er beabsichtige, die begabtesten Musiker, welche die Master Class seiner Schule absolviert haben, zu einer Big Band zusammenzuschweissen und mit dieser Formation das Projekt «Monday Jazz Nights» zu realisieren. Ob ich ihn bei der Erfüllung seines Traums unterstützen würde? Ich wollte zuerst die Meinung von anderen erfolgreichen Bandleadern einholen. So wandte ich mich an Hazy Osterwald. Seine Antwort war ernüchternd: «Um Himmels willen, vergiss das! Was soll eine so grosse Working Band in unserer so kleinen Schweiz?»

Einige der meist selbst ernannten Musikexpert*innen betrachten den Jazz gar als Abfallprodukt eines undisziplinierten, ausschweifenden Lebensstils.

Ich sei ein unverbesserlicher Optimist, wenn ich glaube, dass dieses Orchester nach einem halben Jahr noch zu hören sein werde. Ich gebe zu: Das Statement von Hazy hat mich arg verunsichert. Wie sollte eine Big Band auch nur ein paar Monate überleben, wenn bewährte Grossformationen, selbst jene von Legenden wie Duke Ellington oder Count Basie, mehr schlecht als recht über die Runden kamen? Dass Big Bands immer wieder ums Überleben kämpfen müssen, liegt auch an der Geringschätzung, die der Jazz im etablierten Kulturbetrieb nach wie vor geniesst.

Einige der meist selbst ernannten Musikexpert*innen betrachten den Jazz gar als Abfallprodukt eines undisziplinierten, ausschweifenden Lebensstils. Für sie ist eine Jazzband nichts anderes als ein Haufen liederlicher Gestalten, welche das Tageslicht, frische Luft sowie Mineralwasser verabscheuen und sich in den frühen Morgenstunden über das unerträgliche Lärmen der Vögel beschweren.

Eine anachronistische Tollkühnheit?

Trotz der geschilderten Widrigkeiten im Jazz-Milieu kam ich zum Schluss, dass die Vision von George Robert eine Chance verdient – auch wenn der renommierte Germanist und Musikkenner Peter Rüedi einen solchen Schritt als «anachronistische Tollkühnheit» bezeichnet hat. Eine wichtige Voraussetzung schien mir die Schaffung eines Trägervereins zu sein. Dieser sollte dem Orchester die wöchentlichen Konzertauftritte sichern, indem er das Sponsoring an die Hand nimmt, die Geldmittel verwaltet und sich um die Öffentlichkeitsarbeit kümmert.

Ich kontaktierte namhafte Jazzliebhaber und -kenner*innen und fragte, ob sie bereit wären, für Gottes Lohn im Vorstand des Vereins mitzuwirken. Das Ergebnis war überwältigend: Ich erhielt keine einzige Absage! Dem unermüdlichen, Einsatz dieser Gruppe ist es zu verdanken, dass am 9. Februar 2004 über 200 Personen zur Gründungsversammlung des Vereins Swiss Jazz Orchestra SJO ins Kulturcasino Bern strömten.

Das Swiss Jazz Orchestra im Jahr 2008 (Foto:zvg).

Freigeister spielen nach Noten

Es ist alles andere als selbstverständlich, dass das Orchester seit seiner Gründung mit nur wenigen personellen Mutationen konfrontiert wurde, dass die wichtigsten Exponent*innen der Schweizer Jazzszene mit Enthusiasmus bei den wöchentlichen Konzerten mitwirken und ohne Murren akzeptierten, dass sie – wohlverstanden als Profis – während vielen Jahren für ihren zweistündigen Auftritt mit der bescheidenen Gage von 150 Franken Vorlieb nehmen mussten.

Journal B unterstützen

Unabhängiger Journalismus kostet. Deshalb brauchen wir dich. Werde jetzt Mitglied oder spende.

Wie hat doch der Posaunist Andreas Tschopp so treffend geschrieben: «Eigentlich ist es ja ein Wunder, dass es überhaupt Big Bands gibt. Knapp 20 Jazzmusiker – von Natur aus eher Freigeister, Individualisten und Einzelkämpfer – schliessen sich zusammen und spielen Abend für Abend fein säuberlich, was auf den Notenblättern steht, dürfen sich lediglich ein- bis zweimal pro Konzert als Solist profilieren, setzen sich dann brav in die Reihe zurück, teilen die spärliche Gage mit vielen Mitmusikern und müssen darüber hinaus neben dem eigenen auch noch mit rund 15 anderen Egos klarkommen – wie soll denn das, bitte schön, funktionieren?»

830 Konzerte und schier grenzenlose Neugier

Dass es funktioniert, belegt der Leistungsausweis des SJO: Es gibt keine andere Schweizer Big Band, die in 20 Jahren 830 Konzerte bestritten und 12 anspruchsvolle CD-Projekte realisiert hat. Es ist kaum zu fassen: Das Orchester verfügt über mehr als 1000 Arrangements und Kompositionen. Es verdankt seine Einmaligkeit der aussergewöhnlichen Spannweite des Repertoires, der Elastizität des Klangkörpers und der schier grenzenlosen Neugier der Musiker*innen, was immer wieder für Überraschungen sorgt.

Doch heute sind die Rollen vertauscht: Als Zuhörer*innen haben wir uns vor den Bandmitgliedern zu verneigen.

In der Breite und Vielfalt liegt die Stärke – dieser Devise fühlt sich die Band verpflichtet. Wenn es dieser gelingt – und es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln – ihre Spielfreude und Flexibilität zu bewahren, dann wird sie noch lange in der Champions League mitmischen und ihre Fans begeistern. Üblicherweise verneigen sich die Musikerinnen und Musiker nach jedem Konzert vor ihrem Publikum. Doch heute sind die Rollen vertauscht: Als Zuhörer*innen haben wir uns vor den Bandmitgliedern zu verneigen; denn diesen ist es in erster Linie zu verdanken, dass das SJO nicht als Eintagsfliege in die Musikgeschichte eingehen wird.