Politik - Meinung

Ein kleiner Etappensieg für die Demokratie

von Willi Egloff 4. September 2024

Kantonsparlament Endlich ist auch der Grosse Rat bereit, den Gemeinden die Einführung des Stimmrechts für Ausländer*innen zu erlauben. Er hat am Dienstag eine entsprechende Motion mit 77:73 Stimmen überwiesen.

17,9 % der Einwohner*innen des Kantons Bern haben keinen Schweizer Pass. In der Stadt Bern liegt der Anteil der Ausländer*innen etwas höher, nämlich bei 24.8 %. Auch diese Zahl liegt aber noch unter dem Schweizer Durchschnitt von 27 % (Stand Ende Dezember 2023).

Alle diese Menschen haben auch im Erwachsenenalter keine politischen Rechte. Ein Viertel der ständigen Bevölkerung in der Schweiz und ein Fünftel der Bevölkerung im Kanton Bern sind also zwar von allen politischen Entscheidungen genauso wie Schweizer*innen betroffen, dürfen aber nicht darüber mitbestimmen. Sie dürfen nicht für politische Ämter kandidieren und können nicht gewählt werden. Sie dürfen auch keine Initiativen oder Referenden unterzeichnen, nicht einmal wenn sie besonders berührt sind wie etwa im Bereich des Ausländerrechts. Sie sind im wahrsten Sinn des Wortes politisch rechtlos.

Die Schweiz, das undemokratischste Land Europas

In keinem anderen europäischen Land ist der Anteil der Stimmberechtigten an der Wohnbevölkerung so klein wie in der Schweiz. Alle EU-Staaten lassen Ausländer*innen zumindest auf der kommunalen Ebene und oft auch auf den übergeordneten Ebenen mitbestimmen. In einigen Mitgliedstaaten besteht dieses Recht zwar nur für Leute, die aus andern EU-Staaten kommen, doch sind auch dort mindestens 90% der Bevölkerung zumindest teilweise stimmberechtigt. Nur die Schweiz, das angebliche Musterland der Demokratie, schliesst einen Viertel seiner Bevölkerung von der politischen Mitsprache aus.

Auf kommunaler Ebene sieht es punktuell etwas besser aus, kennen doch die Nachbarkantone Freiburg, Jura, Neuenburg und Waadt ein kommunales Stimm- und Wahlrecht für die bei ihnen wohnenden Ausländer*innen. Im Kanton Neuenburg gilt es seit 1849 kantonsweit auf kommunaler und seit 2001 auf kantonaler Ebene. Im Jura können Ausländer*innen seit der Kantonsgründung auf Gemeinde- und Kantonsebene mitbestimmen.

Die Gemeinden würden ein bisschen mehr Autonomie in ihren eigenen Angelegenheiten erhalten.

Die Diskriminierung der Leute ohne Pass hat in unserm Land, dessen Verwaltung zu einem überdurchschnittlich grossen Teil auf Milizarbeit beruht, auch Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben. So ist es heute in zahlreichen Gemeinden und Gemeindeverbänden nur noch mit grosser Mühe möglich, die vielen kommunalen oder regionalen Teilämter zu besetzen. Viele Schweizer*innen wollen diese Ämter nicht übernehmen, weil sie mit erheblichem Aufwand verbunden und oft mit ihrer beruflichen Tätigkeit nicht kompatibel sind. Die Ausländer*innen, die dazu bereit und fachlich in der Lage wären, dürfen diese Ämter nicht ausüben, weil sie nicht den richtigen Pass haben.

Verstoss gegen die Gemeindeautonomie

Das hat dazu geführt, dass über die Jahre hinweg verschiedene Gemeinden des Kantons Bern das Stimm- und Wahlrecht wenigstens in kommunalen Angelegenheiten und für die bei ihnen wohnhaften Ausländer*innen einführen wollten. So haben sich insbesondere die Stadtparlamente von Biel und Bern mehrfach zugunsten des Ausländerstimmrechts ausgesprochen. Das blieb allerdings folgenlos, da die bernische Kantonsverfassung eine solche Ausweitung des Stimm- und Wahlrechts auch auf der kommunalen Ebene verbietet.

Wenigstens dies will nun der Grosse Rat ändern. Mit einer knappen Mehrheit von 77:73 Stimmen hat er einer interfraktionellen Motion von Samantha Dunning (SP) zugestimmt, welche die Abschaffung dieser demokratiefeindlichen Verfassungsbestimmung verlangt. In Zukunft soll es den Gemeinden überlassen sein, wie sie auf der kommunalen Ebene die Stimmberechtigung regeln wollen. Die Gemeinden würden also ein bisschen mehr Autonomie in ihren eigenen Angelegenheiten erhalten.

Rechtsbürgerliche Opposition

Wenig überraschend fanden die Parteien des rechten Spektrums keinen Gefallen am Vorstoss. SVP, FDP und EDU stimmten praktisch geschlossen dagegen, die Mitte zu drei Vierteln. Weil neben der Linken auch EVP und GLP für die Stärkung der Demokratie und der Gemeindeautonomie stimmten, reichte es aber dennoch zu einer knappen Mehrheit.

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Dass SVP und FDP einmal mehr das alte Lied vortrugen, wonach sich diejenigen, die mitbestimmen wollen, einfach einbürgern sollten, konnte niemanden überraschen. Allerdings klingt dieses Lied aus dem Mund derjenigen, die mit der Errichtung immer neuer gesetzlicher Hürden Einbürgerungen möglichst verhindern wollen, inzwischen besonders falsch. Liberales Gedankengut und demokratische Grundsätze stehen zwar in ihren Wahlprospekten, kommen aber in der politischen Praxis nicht vor. Dort geht es nur um die Verteidigung von Privilegien.

Noch ein langer Weg

Die Sache geht jetzt zurück an den Regierungsrat, der sich schon im Vorfeld der Debatte im Grossen Rat für das Anliegen ausgesprochen hatte. Er muss nun einen Vorschlag ausarbeiten, wie die Verfassung und die darauf beruhenden Gesetze geändert werden sollen. Danach wird der Grosse Rat ein weiteres Mal über die gleiche Frage debattieren müssen. Sollte er nochmals für Demokratie und Gemeindeautonomie stimmen, muss die Vorlage noch der Volksabstimmung unterbreitet werden.

Der Weg zu mehr Demokratie ist also noch sehr lang. Besonders im angeblichen Mutterland der Demokratie.