Alltag - Meinung

Ein Kieswerk und seine Saisonniers

von Janine Schneider 21. März 2023

Randbernerin: Unsere Kolumnistin wundert sich über eine besondere Spezies Nachbar*innen und taucht in die Geschichte Reichenbachs ein.

Unsere WG bewohnt den Dachstock eines alten Reichenbacher Hauses, indem sechs verschiedene Parteien Platz finden. Neben uns gibt es da noch die Nachbarin mit den zwei Hunden, das schüchterne junge Paar, den kiffenden Lehrer, den weinliebenden Künstler. Und dann gibt es Rosmarie. Rosmarie, die in Wirklichkeit anders heisst, wohnt in der Wohnung im ersten Stock und ist die älteste Bewohnerin des Hauses. Urgestein sozusagen. Rosmarie gehört zu jenen älteren Nachbar*innen, die schon seit mindestens 50 Jahren im selben Haus wohnen und deshalb sehr genau wissen, wie alles zu funktionieren hat.

Nach den Berichten anderer WGs zu urteilen, gibt es solche ältere Nachbar*innen in fast jedem Berner Mietshaus. Sie sind praktisch eine eigene Spezies, und zwar eine der Sorte mit den aufmerksamen Augen und Ohren. Die mit beängstigender Genauigkeit über dein Leben und deine Tätigkeiten Bescheid wissen. So weiss Rosmarie immer, wann ich zuletzt den Platz gewischt habe, wann mein Mitbewohner von den Ferien nach Hause gekommen ist und wer im Haus die Waschmaschine zuletzt nicht gereinigt hat. Von ihrer Laube aus hat sie einen wunderbaren Überblick über Garten, Strasse und Anwohner*innen. Und kann mich jederzeit abpassen, wenn ich versuche, von ihr unbemerkt die Treppe zu unserer Wohnung hochzuschleichen.

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Dann folgt oft zuerst ein forscher Kommentar («die Treppe müsste wieder mal gewischt werden!»), seltener auch eine forsche Frage («Du bist auch wieder mal zuhause?»), um dann in ein Gespräch überzuleiten, das mit jedem Satz netter wird. Denn bei aller Borstigkeit ist Rosmarie im Grunde eine äusserst herzliche und tolerante Nachbarin. Man braucht sie nur ein wenig kennenzulernen. So hat sie sich beispielsweise noch nie über unsere halbjährlich stattfindenden WG-Partys beschwert, obwohl der Bass bis zu ihr ins Schlafzimmer zu hören sein muss. Im Gegenteil: Bei unserem letzten Fest meinte sie, sie schaffe es leider nicht mehr die Treppe herauf, aber wir sollten ihr doch gerne einen Basil Smash herunterbringen. Davon können wohl nicht alle Berner WGs berichten. Rosmarie ist eben doch ein Unikum.

Meine Kinder wurden von den Italienern richtig verwöhnt.

Rosmarie ist in den Siebzigerjahren mit zwei kleinen Kindern in dieses Haus gezogen. Da wohnten hier vor allem italienische Saisonniers, die die einzelnen Zimmer des damals wahrscheinlich noch rudimentär sanierten Hauses mieteten und in den nahen Zollikofer Industrien und Brauereien arbeiteten. Obwohl ‘Saisonniers ‘ein irreführender Terminus ist: Die «Saison» ihrer Arbeit dauerte nämlich fast das ganze Jahr, jeweils von Ende Januar bis Ende Dezember, bevor sie über Weihnachten und Neujahr einige Wochen in die Heimat fuhren. Für Rosmarie als alleinerziehende Mutter war die italienische Hausgemeinschaft ein Familienersatz. «Meine Kinder wurden von den Italienern richtig verwöhnt. Manchmal musste ich sagen: jetzt ist aber genug!», erzählte sie mir einmal mit gespielt empörter Stimme und berichtete daraufhin vom lustigen Beisammensein am Abend und von den kleinen Geschenken und Süssigkeiten, die ihre italienischen Mitbewohner*innen immer für die Kinder bereithielten.

‘Saisonniers’ ist ein irreführender Terminus ist: Die «Saison» dauerte nämlich fast das ganze Jahr.

Manche der italienischen Gastarbeiter werden wohl auch im nahen Kieswerk gearbeitet haben. Bis in die 80er-Jahre wurde in Reichenbach nämlich Kies in grossem Stil abgebaut. Wie ich von einer Tafel des Landschaftswegs Zollikofens weiss, ist Reichenbach nämlich eine geologische Besonderheit: hier haben sich während der letzten Eiszeit Aare- und Rhonegletscher vereinigt und viel Geröll und Schutt mit sich gebracht. Schutt, der ab 1924 äusserst lukrativ abgebaut werden konnte. Damals erwarb die Firma Losinger ein grosses Gebiet bis hin zur Reichenbachstrasse und begann mit dem industriellen Kiesabbau.  1960 kam dann noch eine Grube gleich oberhalb Reichenbachs, bei Büelikofen hinzu. Das muss eine belastende Zeit für die Anwohner*innen gewesen sein. So erzählte mir Rosmarie, dass hier früher dutzende Lastwagen jeden Tag durchgefahren sein sollen. Die Tafel des Landschaftsweges spricht von 50 bis 100 schweren Lastwagen täglich. Auch der Staub und die Lärmbelastung müssen immens gewesen sein.

Heute ist davon nichts mehr zu spüren. Das Kieswerk wurde zwischen 1980 und 1985 eingestellt und abgerissen. Die Gruben zugeschüttet und ein Teil des abgerissenen alten Berner Bahnhofs darin versenkt. Geblieben ist der Name einer der Bushaltstellen: Grubenweg. Und das alte Haus an der Reichenbachstrasse, in dem allerdings keine italienischen Gastarbeiter*innen mehr wohnen. Stattdessen eine WG, die ab und zu von der alten Nachbarin von unten mit Schokolade verwöhnt wird.