Das Haus ist offen, in der doppelten Bedeutung des Worts: Es ist eröffnet, zugänglich jeden Tag von 7:30 bis 20:30 Uhr. Alle sind darin willkommen. Das Haus: Das Burgerspital am Bahnhof Bern. Fertiggestellt 1742, sorgfältig restauriert 2013/2014. Es beherbergt seit ein paar Monaten das sogenannte Berner Generationenhaus.
Work in progress
Doch halt: das Berner Generationenhaus «ist» noch nicht. Und wird nie wirklich fertig sein. Es soll und darf ständig «work in progress» bleiben. Das Hergebrachte, Bodenständige, im Hier fest Verwurzelte ist offen für Neues, Zeitweiliges, von weither Zufliegendes. Eine Synthese von Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn.
Über dem Eingang steht seit dem Bau des Hauses «Christo in pauperibus», frei übersetzt etwa: Für Christus, der sich in den Armen zeigt. Ein christliches Bekenntnis getreu dem Satz im Matthäusevangelium: «Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.» (Mt 25, 40)
Wer das Tor passiert, gelangt geradeaus in den grosszügigen Hofgarten. Jetzt ist er winterlich karg. Im Frühjahr wird hinaus gestuhlt, dann wird er ein behaglicher Ort.
Netzwerk sozialer Dienste
Unter dem Torbogen links ist der Empfang mit Informationstheke. Von hier öffnet sich im Erdgeschoss der Rundgang zu zahlreichen öffentlichen und privaten Stellen, die sich alle mit Sozial- und Gesundheitsfragen befassen: die Mütter- und Väterberatung Kanton Bern, der Checkpoint (Kinder-, Jugend- und Familienservice der Stadt Bern), eine Filiale der Kornhausbibliotheken, Pro Senectute, das Schweizerische Rote Kreuz, die Schweizerische Alzheimervereinigung Bern, der Verein Lesen und Schreiben und Benevol, die Agentur für Freiwillige.
Sie alle bilden – offene Tür an offener Tür – ein Netzwerk sozialer Dienste für Fragen, Probleme, Chancen aller Altersstufen. Der breite Korridor mit Blick in den Hofgarten bietet Raum zum Verweilen, zum Besprechen, zur Begegnung. Kinderwagen haben Platz und für die Kleinen gibt es Spielecken. Natürlich ist das alles noch etwas ungebraucht, aber mit jeder Besucherin und jedem Ratsuchenden, wird es an Leben gewinnen.
Hinten rechts im Parterre, direkt an das ehemalige Milchgässlein grenzend, liegt das Restaurant Toi&Moi. Ein grosser, hoher Raum mit einem wilden Stilgemisch an Formen, Farben und Materialien, einem Lüster und einer Kupferkugellampe. Aufmerksame Bedienung, gutes Essen, anständige Preise. Einziger Mangel: Es ist laut, eine gedämpfte Konversation, ein konspiratives Gespräch sind schwer möglich. Dafür geht man lieber in den nahen Schweizerhof.
Alterswohnen im zweiten Stock
Über vier Treppenhäuser und mehrere Liftanlagen erreicht man die oberen zwei Geschosse. Im ersten ist die Verwaltung der Burgergemeinde untergebracht. Im zweiten Geschoss befinden sich, in drei Wohngemeinschaften organisiert, insgesamt 32 Zimmer und Appartements für alte Menschen mit Pflegebedarf.
Grosszügige, lichte Korridore mit warmem Parkett verbinden die Gemeinschaften. Jede verfügt über eine grosse Küche, allgemeine Räume mit stilvoller Einrichtung. Vom alten Burgerspital mit seinen dunklen Gängen ist diese helle und offene Alterszone geblieben, ein Ort, in dem man – denke ich mit 70 – sich gerne schickt, wenn es denn halt sein muss.
Die Welt der Konferenzen
Zuoberst öffnet sich direkt unter dem Dach in der Schräge eine dritte Welt: Hier reiht sich Sitzungs- an Konferenz- und Bankett-Raum. Es gibt Räume jeder Grösse, alle technisch à jour ausgestattet, mit Cateringmöglichkeit aus dem Haus.
Der Keller nimmt die moderne Haustechnik auf. Er bietet aber in vier Gewölben auch Raum für kulturelle Aktivitäten mit und ohne Bühne.
Zeit und Raum zum Werden
Das ist nicht alles. Im Frühjahr wird neben der Kapelle eine Kita mit Spielplatz eröffnet. Für vier Gewölbekeller werden Nutzungen ausprobiert. Eine Jugendjobbörse läuft. Neue Projekte werden aus dem Bestehenden entwickelt. Mit den wissenschaftlichen Akademien bahnt sich für Forschungsarbeiten zu intergenerationellen Fragen eine Kooperation an. Im Internet soll das «virtuelle Generationenhaus» Informationen vermitteln und zur Kommunikation einladen. Und noch sind, ganz real, private Arbeitsplätze zu moderaten Bedingungen zu mieten.
Das Berner Generationenhaus wirkt wohltuend unhektisch. Nein, es herrscht nicht die den Bernern nachgesagte Gemächlichkeit. Aber die Burgergemeinde gibt ihrem grössten und teuersten Vorhaben seit langem Zeit, zu werden. So wie sich im Leben Beziehungen zwischen den Generationen entwickeln, so dürfen im neu eröffneten Haus Projekte wachsen – und zu einem Netzwerk zusammenfinden. Lieber etwas langsamer, als unter Druck zu bluffen, so könnte das Motto heissen. Die Burgergemeinde will lieber solides Wachstum als publizitätsträchtige Strohfeuer. Für das Thema des Hauses stimmt diese Haltung.
Neuer Leiter und Möglichkeitssinn
Dazu passt auch der neue Leiter. Till Grünewald, Jazzmusiker und Ökonom, Ehemann und Vater einer einjährigen Tochter, verkörpert vieles, das im Burgerspital nun Inhalt sucht und Form annimmt. Er nomadisiert mit seinem beweglichen Arbeitsplatz durch das Haus, erkundet immer neu Möglichkeiten, führt Leute zusammen, ist unkompliziert ansprechbar.
Etwas wächst von selbst: Wenn das Jahr fortschreitet, werden Hof und Garten eine Oase der Ruhe. Leben ist erwünscht. Und doch: Ein beschaulicher Ort unmittelbar neben der Hektik, dem Gewusel, dem Verkehr am Bahnhof. Das 18. Jahrhundert grenzt dann direkt an das 21. Jahrhundert und verbindet sich mit ihm. Das neue Burgerspital, das Generationenhaus, das offene Haus bildet die Synthese, die Verbindung zwischen alt und neu. Projektideen sind ausdrücklich willkommen. Der Name des Restaurants ist dafür ein Fingerzeig: Toi&Moi.
Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn
Das personelle, bauliche und konzeptionelle Potential des neu-alten Gebäudes verführt einen zum Traum, hier könnte eine Verbindung von Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn gelingen. Robert Musil schrieb im Roman «Der Mann ohne Eigenschaften»: «Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muss man die Tatsache achten, dass sie einen festen Rahmen haben: dieser Grundsatz (…) ist einfach eine Forderung des Wirklichkeitssinns. Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt (…), dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So liesse sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.»
Ein schönes Programm!