Für Christoph Marti ist es purer Zufall, dass er und nicht etwa ein anderer Lehrer im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Eigentlich gehe es im Film um das gesamte Gymnasium, er sei einfach derjenige, der am längsten darin «umetschauppet» sei und daher das Gebäude am besten kenne.
Musik ir Luft
Tatsächlich ist die Beziehung Martis zum Gebäude eine besondere: Er ist nicht nur seit 1977 als Musiklehrer angestellt, sondern hat sogar schon seine eigene gymnasiale Ausbildung hier absolviert. Den Zugang zur Musik hat Marti schon vorher, über seine Familie, gefunden: «Es isch irgendwie ir Luft gläge», sagt er. Seine Eltern sowie seine Schwester hätten ein Instrument gespielt, man habe in der Familie oft Musik gehört. Doch wie er auf sein Instrument, die Geige, gekommen ist, weiss er nicht mehr.
Es sind gerade diese Lücken in seiner Erinnerung, die Marti so authentisch machen. Er denkt während des Sprechens oft etwas nach, hält inne, um festzustellen, dass er etwas nicht mehr so genau weiss, oder dass etwas «äuä» so gewesen sein muss und nicht anders. Statt rückwirkend ein genaues Bild der Vergangenheit zu konstruieren, hält er die Verschwommenheit seiner Erinnerung aus und steht zu dieser.
43 Jahre im Neufeld
So weiss er auch nicht mehr genau, warum er sich für ein Studium der Musik und somit gegen sein zweites Wunschstudium, die Mathematik, entschieden hat. Er mutmasst, dass sein Musiklehrer Adolf Burkhardt einen sehr grossen Einfluss auf ihn ausgeübt hatte. Dieser spielte durch die Gründung des Chors und des Orchesters eine sehr bedeutende Rolle in der Entwicklung des Gymnasiums und wünschte sich Marti als Berufskollegen. Dies wurde er tatsächlich, nachdem er sein Musikstudium und die damals neue Musiklehrerausbildung für Mittelschulen als erster erfolgreich absolviert hatte. Wie sein Götti, Gerhart Wagner, der damals Rektor des Gymnasiums war, im Film «Ein halbes Jahrhundert» erklärt, fiel die Wahl damals nicht schwer, da Christoph Marti der einzige Bewerber war.
Seither ist Marti dem Neufeld treu geblieben. Rückblickend stellt er fest, dass das Gebäude während 43 Jahren (Schüler- und Lehrerrolle zusammengerechnet) ein wichtiger Bestandteil seines Lebens war. Marti ist besonders stolz darauf, dass er «vielleicht auch ein klein wenig» dazu beigetragen hat, dass einige seiner ehemaligen SchülerInnen mittlerweile professionelle Musiker geworden sind. Was ihn am meisten schmerzt ist der Gedanke an SchülerInnen, denen er womöglich mit seinem Unterricht die Freude an der Musik verdarb. Er sei vielleicht manchmal etwas zu streng und lobe zu wenig, meint er selbstkritisch.
Modernes Programm
Die Programme, die Marti in Zusammenarbeit mit den Musiklehrern Adrienne Rychard und Bruno Späti mit dem 250-köpfigen Chor einstudiert, bestehen zu einem grossen Anteil aus zeitgenössischer E-Musik, die für Laien oft eine Herausforderung darstellt. Beim Einstudieren stösst Marti daher manchmal auf Widerstand bei seinen SchülerInnen, doch er nimmt wahr, dass sie mit der Zeit gerade durch die intensive Auseinandersetzung mit der Musik ein Stück lieb gewinnen und stolz sind, wenn sie es beherrschen. Ebenfalls fällt ihm auf, dass sich ehemalige Schüler besser an die schwierigen Komponisten erinnern, eben weil diese ihnen ein besonderes Engagement abverlangt haben.
Martis eigene Lieblingskomponisten sind Bach und Mozart. «Das ist so fantasielos, dass ich es fast nicht sagen darf», meint er entschuldigend. Die modernen und zeitgenössischen Komponisten schätzt er auch, wenn auch auf eine andere Art. Man müsse sich den Zugang zu diesen halt erst mal hart erarbeiten, bevor man sie geniessen könne. Es sei dann auch ein anderes Geniessen als das schwelgerische Versinken in einer Melodie von Mozart.
Spiegel unserer Welt
Da Marti E-Musik als einen Spiegel unserer Lebenswelt versteht, wundert er sich bisweilen trotzdem: «We üs d Musig vo üser Zit nid gfaut, de muess me sech scho überlege: was isch da eigentlech los? Gfaut üs äch di Wäut nid, womr drin läbe? Gfaut üs nume di glänzigi Oberflächi, das wo d U-Musig abbiudet?»
Die Frage bleibt im Raum stehen. Obschon sich Marti primär für klassische Musik interessiert und ihm alles andere oft etwas zu simpel ist, ist er der U-Musik nicht grundsätzlich abgeneigt und hört diese manchmal sogar am Radio. Eine besondere Bedeutung hat das französische Chanson «Champs-Elysées» von Joe Dassin für ihn, das ihn beim Anhören auch heute noch «beflügelt», da er sich dadurch in jenes Schulskilager zurückversetzt fühlt, in dem er zum ersten Mal verliebt war. Er hätte es sogar auf CD, falls der Song wochenlang nicht im Radio kommen sollte.
Geige üben wie Zähne putzen
Auch Martis Alltag ausserhalb der Schule ist stark von der Musik geprägt. Dass er das Haus morgens fast nicht verlassen kann, ohne eine halbe Stunde Geige geübt zu haben, vergleicht er mit der Selbstverständlichkeit des Zähneputzens. Auch mit seiner 10-jährigen Tochter Alya spielt er regelmässig Geige. Diese sei eines Tages auf ihn zugekommen und habe verkündet, sie wolle das Geigenspiel erlernen. Seither hat sie Geigenunterricht bei einer Lehrerin und einen Vater, der regelmässig und gerne mit ihr übt. Marti betont, es sei nicht immer einfach, da Alya immer wieder feststellt, ihre Geigenlehrerin sei nicht so streng wie er, doch es sei halt nichts als normal, dass es «ab und zue chlepft».
Und was möchte Marti 2018 nach seiner Pensionierung tun? Er pflege zu sagen, er werde lesen und schreiben, sagt er. Besonders auf das Lesen freut er sich, da ihm während des strengen Schulalltags schlichtweg die Zeit und Energie dazu fehlten. Vielleicht werde er auch wieder mehr komponieren. Langweilen wird sich Christoph Marti somit kaum. Dennoch spricht er an, dass es ihm wahrscheinlich schwer fallen werde, nach so vielen Jahren den Schlüssel zum Gymnasium abzugeben und nicht mehr täglich den Weg dorthin zurückzulegen. Bleiben werden ihm dann noch die Erinnerungen an fast ein halbes Jahrhundert im Neufeld.
Aus Länggassblatt Februar 2017
Informationen zum Film: www.carlahaas.ch