Ein halbes Jahrhundert Gaskessel

von Nicolas Eggen 23. September 2021

Seit fünfzig Jahren locken zwei grosse Kuppeln bei der Aare die Berner Jugend in den Ausgang. Gemeint ist der Gaskessel, mittlerweile eine feste Institution im Berner Nachtleben und für die allermeisten ein Begriff. Speziell ist neben der Lage und der architektonischen Form auch das Konzept, welches dem Gaskessel schon seit seinen Anfängen zugrunde liegt: «Von Jugendlichen für Jugendliche».

Der Gaskessel ist als Jugendverein aufgebaut und zählt rund 240 Vereinsmitglieder. Darunter gibt es Aktivmitglieder, die sich auf unterschiedliche Weise für den Gaskessel engagieren und für ihn arbeiten. Eine von ihnen ist Marlou Thalheim, 20 jährig, seit drei Jahren Vereinsmitglied und seit einem Jahr Teil des Vorstandes. Zum Gaskessel kam sie während Ihrer Zeit im Gymnasium um etwas Geld zu verdienen. Geblieben ist sie wegen der «familiären Atmosphäre», wie sie sagt. Die Jugendlichen können verschiedene Arbeiten übernehmen, wie beispielsweise an der Bar Getränke ausschenken, Sicherheitskontrollen durchführen oder im technischen Bereich Aufgaben übernehmen. Unterstützt werden die Jugendlichen von einem siebenköpfigen Team von festangestellten Mitarbeiter*innen. Das Team besteht aus einer Jugendarbeiterin, einem Teamleiter, einem Buchhalter, einem Haustechniker, einer Produktionsleiterin und zwei Bookern. Letztere sind, gemeinsam mit der Kulturgruppe, für die Organisation und Buchung der verschiedenen Acts verantwortlich. Sie alle unterstützen die Jugendlichen beim täglichen Betrieb des Gaskessels und helfen ihnen auch bei Problemen oder Schwierigkeiten. «Anfangs wusste ich noch gar nicht, dass es so viele verschiedene Möglichkeiten gibt sich zu engagieren und mitzuwirken», meint Marlou.

«Den Gaskessel so formen, wie wir es wollen»

Da im Gaskessel alle ab 16 mitmachen können, führe das zu einer extrem durchmischten Gruppe an Menschen mit «verschiedenen Persönlichkeiten aus den unterschiedlichsten Kreisen.» Jedoch mit einer Gemeinsamkeit: «Zusammen etwas zu kreieren, zu erschaffen und somit den Gaskessel nach unseren Wünschen und Vorstellungen zu gestalten», fährt Marlou fort. Ein gutes Beispiel dafür sei die Projektgruppe «Kulturchrut» gewesen. Eine Gruppe aus etwa 15 Aktivmitgliedern hatte sich zum Ziel gemacht, den Aussenbereich des Gaskessels zu begrünen und einladender zu gestalten. Dabei entstanden verschiedene Sitzmöglichkeiten, eine Feuerstelle und ein gezielt wild wuchernder Garten. Finanziert werden solche Projekte durch sogenannte Projektstunden. Die Jugendlichen können von ihrer effektiv geleisteten Arbeitszeit einen Teil in ein Projekt einfliessen lassen, indem sie auf Lohn verzichten und diesen dem Projekt spenden. Weitere Beispiele für solche Projekte können der Bau einer Siebdruckmaschine sein oder auch ganz Alltägliches, wie das Schleifen der Messer in der Küche. Auch können die Jugendlichen selbst Partys organisieren und so auch jungen DJs erste Erfahrungen hinter einem Mischpult ermöglichen. «Ich kenne einige Beispiele von Kollektiven oder DJ’s, welche ihr Debut bei uns gefeiert haben und jetzt durchgestartet sind», sagt Marlou.

Primat Gaskessel

Die wohl grösste Veränderung zu früher ist der Aussenbereich des Gaskessels. Neben den neuen Sitzmöglichkeiten gibt es seit ein paar Jahren eine Skatebowl vor dem Gaskessel. Und die Veränderung wird in den nächsten Jahren weiter gehen. Seit Jahren verhandelten Vertretende der Stadt und die Jugendlichen des Gaskessels um die Zukunft des ehemaligen Gaswerkareals der EWB. Dieses muss saniert werden und es wurden verschiedene Konzepte und Ideen eingereicht. Schwierig für den Gaskessel: Sie wussten einige Zeit nicht, ob und in welcher Form sie auf dem Areal bleiben dürfen. «In dieser Zeit haben wir uns sehr stark politisch für den Gaskessel engagiert! Das Thema war natürlich bei allen Sitzungen omnipräsent und löste bei uns grosse Unsicherheit aus», erinnert sich Marlou. Angefangen hat es mit einer Jugendmotion im Jahr 2014 «Der Gaskessel bleibt, wo er ist», welche von den Jugendlichen des Gaskessels initiiert wurde. Die politische Partizipation und der Widerstand, den die Jugendlichen des Gaskessels all die weiteren Jahre leisteten, mündeten im «Primat Gaskessel». Das bedeutet: Der Gaskessel bleibt in seiner heutigen Form dort, wo er ist. Die Entwicklungen des Areals und deren Umsetzung haben sich am Gaskessel zu orientieren und dürfen dessen heutige und zukünftige Nutzung in keiner Weise gefährden. Dies hat der Gemeinderat entschieden und hat nun die nächste Projektphase, den städtebaulichen Ideenwettbewerb begonnen. Geplant sind wohl Wohnungen. Jetzt geht es darum ein Konzept zu erarbeiten, welches einen Kompromiss zwischen den Bedürfnissen des Gaskessels und denen der zukünftigen Nachbarn findet. In diesem Planungsprozess ist auch der Gaskessel vertreten, ein Vorstandsmitglied wird eine Expertenrolle mit beratender Funktion übernehmen. «Für uns ist das wichtigste in diesem ganzen Prozess, dass wir nun die Zusicherung haben, hier bleiben zu dürfen und auch in der jetzigen Form so weitermachen zu dürfen. Dies war eine grosse Erleichterung für uns!», hält Marlou fest.

Gaskessel Kuppel
Der Gaskessel darf bleiben. (Foto: Nicolas Eggen)

Tätigkeiten während der Pandemie

Doch es wurde nicht einfacher für den Kulturbetrieb. Die Pandemie traf den Gaskessel sehr hart. Ein Vergleich mit dem Jahr 2019 zeigt: Die Veranstaltungen und die Besucherzahlen hatten sich im Vergleich zum Vorjahr halbiert. Wegen den finanziellen Einbussen musste der Gaskessel einen Notkredit aufnehmen. Jedoch konnte ein leichter Zuwachs bei den Vereinsmitgliedern festgestellt werden. «Ich glaube, das hat damit zu tun, dass viele Jugendliche durch den Lockdown das erste Mal so viel freie Zeit hatten. Da haben sich wohl einige gedacht, es ist besser, die Zeit in ein Projekt wie den Gaskessel zu investieren, als Zuhause zu warten, bis die Welt wieder normal wird.» meint Marlou. Als dann keine Veranstaltungen mehr durchgeführt werden konnten, war das für die Jugendlichen «frustrierend», denn sie durften sich auch nicht mehr beim Gaskessel treffen. «Es war wiedermal eine sehr unsichere Zeit. Die Regeln wechselten fast wöchentlich, was die Planung natürlich erschwerte», so Marlou. Auch habe man in dieser Zeit gemerkt, wie wichtig der Gaskessel als Begegnungsort für die Jugendlichen ist. Um das Gemeinschaftsgefühl und den Zusammenhalt nicht zu verlieren, haben sie verschiedene Aktionen gestartet. «Wir haben Online-Tools wie Zoom verwendet oder haben uns gegenseitig Postkarten geschrieben», erklärt Marlou. Die veranstaltungsfreie Zeit haben sie auch genutzt, um den Gaskessel zu renovieren, wofür man vorher schlicht keine Zeit hatte. So wurde beispielsweise eine Bar komplett umgestellt, Teppiche rausgerissen und alle Wände neu gestrichen. Es wurden auch pandemiekonforme Veranstaltungsformen ins Leben gerufen, wie beispielsweise der Gaskessel-Podcast oder das «Stage at Home» – Konzerte, die per Onlinestream übertragen wurden. «Das war eine gute Zwischenlösung, welche anfangs auf grosses Interesse stiess. Mit der Zeit merkte man aber, dass die Leute langsam genug hatten von virtuellen Veranstaltungen und Zoom-Konzerten», so Marlou.

50 Jahre Jubiläumswoche und GK50-LP

Vorletzte Woche fand die Jubiläumswoche mit verschiedenen Konzerten und Auftritten statt. Eine solche Jubiläumswoche während einer Pandemie zu planen, war «schon fast ein bisschen verrückt». «Es war natürlich ein grosses Risiko für beide Seiten, für uns als Veranstalter*innen aber auch für die Künstler*innen.» Auch sei es jetzt mit der Zertifikatspflicht einfacher, Veranstaltungen durchzuführen, weil nach der Eingangskontrolle alles «relativ normal läuft». Während der Jubiläumswoche traten verschiedene Künstler*innen auf, bekannte wie Stiller Haas aber auch unbekannte wie Nur Jaber aus dem Libanon.

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Endlich darf im Gaskessel wieder gefeiert werden. (Foto: Merlin Lory)

Das Fazit von Marlou: «Die Jubiläumswoche war ein Highlight! Noch nie haben wir eine ganze Woche lang jeden Tag veranstaltet – Es war zwar intensiv, aber hat sich definitiv gelohnt. Mit einer Besammlung der Chessu-Mitglieder nach dem letzten Konzert rundeten wir die Woche ab. Um mich herum konnte ich nur lachende Gesichter und viel Champagner sehen, und dieses stolze Gefühl in der Luft spüren, weil wir es gemeinsam geschafft hatten diese Woche zu stemmen. Das Jubiläum ist aber noch nicht abgeschlossen – als nächstes freuen wir uns auf die Release Party unserer ersten Chessu-LP am Freitag.» Die «Gaskessel LP» ist eine Sammlung von musikalischen Kreationen, die von ehemaligen und aktiven Gaskesselmitgliedern erschaffen wurde. Von den Tracks über die Organisation des Vertriebs bis zur Grafik des Covers – und zum nächtlichen Druck der Hülle mittels Siebdruckverfahrens. Alles wurde von den Jugendlichen selbst initiiert und organisiert. Der Song «Super Wasted And Happy» von John Rayet gibt sogar die einmalige Geräuschkulisse des Gaskessels wieder. Geräusche, die rund um den Gaskessel aufgenommen wurden bilden das Rückgrat des Sounds. So wird beispielsweise ein Tritt gegen eine Tonne zum fetten Bass-Kick und das Klickern einer Spraydose zum Perkussionselement. Um das Album und den Gaskessel nochmals richtig zu feiern, findet morgen Freitag, 24.09.21, dieRelease-Party GK50-LP statt.

Gaskessel LP
Die neuste Kreation des Chessus: Die Gaskessel-LP. (Foto: zvg)

Auf die Frage, was den Gaskessel so einzigartig mache, muss Marlou anfangs ein bisschen nachdenken: «Ich denke, es gibt keinen anderen Ort wie den Gaskessel, wo man sich als Jugendliche seinen eigenen Freiraum kreieren kann, so ernst genommen wird und dabei auch noch unterstützt wird. Und natürlich die Atmosphäre. Wir sind wie eine riesengrosse Familie!»

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