Ein Gletscher im Jura

von Thomas Göttin 21. Juli 2022

Sommerserie (5): Als ein befreundeter Hydrologe mich an einem heissen Julitag zu einer Gletschertour im Jura einlud, dachte ich zuerst: Der spinnt. Gletscher im Jura? Gibt’s doch nicht. Gibt es aber. Das Kontrastprogramm zu den Berner Hitzeinseln.

Unser Ziel ist die Glacière de Monlési auf der Jurahöhe unweit von Fleurier im Val de Travers in Richtung la Brévine. Die Existenz der Juragletscher zeigt sich schon in der französischen Bezeichnung: während «normale» Alpengletscher «glaciers» heissen, bezeichnet man einen Juragletscher als «glacière». Für meine deutschen Ohren tönt das sehr elegant, obwohl es auch einfach Kühlschrank bedeutet.

Juragletscher verlaufen unterirdisch – in grossen, waagrechten Karsthöhlen, soweit ich das begriffen habe. Leicht zu finden sind sie nicht. Wir jedenfalls stampfen abseits der einsamen Verbindungs-Strasse auf der Jurahöhe durch den Wald, immer auf der Suche nach dem Zugangsschacht. Schliesslich liegt er vor uns, kreisrund und etwa zwanzig Meter tief.

Über eine Leiter steigen wir hinunter auf den Gletscher. Auf dem Grund stehen wir auf dem Eis. Es ist es angenehm kühl bis kalt, die Aussicht nach oben in den grünen Blätterwald im kreisrunden Ausschnitt berauschend. Die oberste Eisschicht ist grobkörnig, fühlt sich fast an wie harschiger Frühlingsschnee, wenn man ein paar Schritte darauf geht. Weiter vor in die Höhle wage ich mich nicht. Das ist etwas für Spezialist:innen.

Die Juragletscher entstehen in Höhlen, in welchen die kalte Luft des Winters das ganze Jahr über kaum entweichen kann, und so immer eine Temperatur von etwa Null Grad herrscht. Was an Eis im Sommer wegschmilzt, wird im Winter durch den Schnee wieder aufgefüllt. So besteht ein prekärer Zustand des Gleichgewichts zwischen Luft, Wasser, Eis und Höhle. Nur schon zu viele Besucher:innen können mit ihrer Wärme das Gleichgewicht stören. Die Glacière de Monlési ist mit rund 10’000 Kubikmeter Eis der grösste Gletscher im Jura.

Wieder zurück in unserem Haus auf der gegenüberliegenden Jurakette, wo wir die heisse Sommerzeit verbringen, erzähle ich unserem Nachbarn von der Glacière. Er schaut nach den Kühen und kennt jeden Winkel der Gegend. Natürlich auch den Gletscher. «Weisst du was», sagt er mit der Pfeife im Mund und zeigt mit dem Stock Richtung Westen, «früher haben sie das Eis geschlagen und direkt mit den ersten Eisenbahnen nach Paris gebracht. Dort diente es als Eiswürfel im Aperitif oder zum Kühlen der frischen Fische.» Seither betrachte ich die Eiswürfel in meinem Kühlschrank mit etwas mehr Ehrfurcht.