Ein Dorf dokumentiert sich selbst

von Noah Pilloud 22. Dezember 2022

Das Alpine Museum widmet seine neueste Ausstellung dem Dorf Mitholz. Daran gearbeitet haben auch Leute aus dem Dorf.

Mitholz, Bushaltestelle «Unter der Fluh». Die Fluh, das ist die gelb-weisse Felswand, die seit dem Jahr 2018 Nationale Bekanntheit erlangte, als das VBS über die verschütteten Reste des ehemaligen Munitionslagers informierte. Unter ebenjener Fluh wohnt auch Dory Schmid. Annelies Grossen führt mich von der Haltestelle zu Schmids Haus.

Zu dritt wollen wir über die neue Ausstellung im Alpinen Museum und über die Räumung eines Teils des Dorfes sprechen. Beginnen müssen wir dieses Gespräch nicht. Es findet, so entsteht der Eindruck, irgendwie ständig statt. Kaum sind wir über der Türschwelle, sprechen die beiden Frauen über Bedarfsabklärungen und Umzonungen. «Für jene, die aus Mitholz wegziehen müssen, will die Gemeinde Kandergrund anderswo im Tal Bauland einzonen», erklärt Annelies Grossen.

Uns war von Beginn weg klar, dass eine Ausstellung über Mitholz nur mit Mitholz gelingen kann.

Damit die verschütteten Munitionsreste geräumt werden können, muss ein Teil der Dorfbevölkerung für mindestens zehn Jahre wegziehen. Das verkündete das VBS 2020 und gab sogleich den Zeitplan bekannt: Zehn Jahre Vorbereitungszeit, zehn Jahre Räumung, ab 2040 soll Mitholz wieder normal bewohnbar sein.

Die Kontrolle über die eigene Geschichte

Was bedeutet das für eine Dorfgemeinschaft und die einzelnen Menschen im Dorf? Wie kam es soweit? Wie wird Mitholz nach der Räumung aussehen? Diesen Fragen nimmt sich die Ausstellung «Heimat. Auf Spurensuche in Mitholz» an. Entwickelt wurde die Ausstellung in einem partizipativen Projekt, an dem Personen aus Mitholz gemeinsam mit dem Team vom Alpinen Museum arbeiteten.

Dory Schmid ist Bewohnerin von Mitholz und Annelies Grossen ist in der «IG Mitholz» aktiv, dadurch wurden sie auf das Projekt des Alpinen Museums aufmerksam. «Als sich die Arbeitsgruppe zum ersten Mal traf, standen nur die drei Worte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fest», erzählt Dory Schmid.

Kein von A bis Z ausgearbeitetes Ausstellungskonzept zu haben, war für Barbara Keller, Kuratorin des Alpinen Museums, eine neue Erfahrung. «Uns war aber von Beginn weg klar, dass eine Ausstellung über Mitholz nur mit Mitholz gelingen kann», erzählt sie. «In dieser Zeit wurde viel über das Dorf berichtet, also war es uns ein Anliegen, den Mitholzer*innen die Kontrolle darüber zu geben, wie ihre Geschichte erzählt wird und unseren Gestaltungsspielraum zu teilen», erklärt Keller.

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Ein Jahr lang traf sich die Arbeitsgruppe in loser Regelmässigkeit, um das Konzept zu erarbeiten. Als es im zweiten Jahr um die Umsetzung ging, wurden die involvierten Mitholzer*innen zu freien Angestellten des Museums. Nun ist daraus eine Ausstellung entstanden, die Fakten und Geschichten zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Dorfes zusammenträgt und präsentiert. «Zu Beginn habe ich alles was mir begegnete und ich als interessant für die Ausstellung erachtete an Barbara Keller weitergeschickt», erklärt Annelies Grossen.

Ihr sei es wichtig gewesen, dass die Ausstellung informiert, ohne dabei sensationslustig zu sein, betont Schmid. «Ich sehe darin die Chance, ein Verständnis dafür zu schaffen, was wir hier durchmachen», sagt die Mitholzerin weiter, ausserdem sei die Räumung ein mit Steuergeldern finanziertes Milliardenprojekt, das alle etwas angehe.

Von der Vergangenheit eingeholt

Vor 2018 war die Explosion des Munitionslagers 1947 im Dorf nur eine entfernte Erinnerung. Präsent irgendwo im kollektiven Gedächtnis zwar, aber das Ereignis nahm nicht viel Raum ein. «Es ist für eine Dorfgemeinschaft auch gut, wenn solche Wunden mit der Zeit wieder zuwachsen können», sagt Annelies Grossen, die einen besonderen Bezug zum Unglück von 1947 hat. Ihre Grosseltern wohnten in der Nähe des Stollens, sie verloren in jener Nacht zwei Kinder, einen Pflegesohn und die Mutter des Grossvaters. Als einziges Kind überlebte die Mutter von Annelies Grossen damals den Brand im Haus.

«Das Ereignis war darum immer Thema bei uns, aber wirklich viel darüber gesprochen wurde auch bei uns nicht», sagt Grossen. Beim fünfzigsten Gedenktag habe eine gewisse Aufarbeitung stattgefunden.

«Ich dachte irgendwann käme noch das 75-jährige Gedenken und dann kann die Sache ruhen», erzählt Grossen. Doch mit der Räumung gelangte auch die Explosion wieder ins Bewusstsein. Annelies Grossen ist froh, dass ihre Grosseltern diese nicht auch noch miterleben müssen.

Die Verbundenheit mit einem bestimmten Haus an einem bestimmten Ort kann aus städtischer Perspektive zwar emotional wohl nicht begriffen werden.

Dass nun das Ereignis von 1947 in der Ausstellung seinen Platz findet, war Grossen ein besonderes Anliegen. Ohne diese Vergangenheit zu kennen, lässt sich die Gegenwart des Dorfes wohl nicht verstehen.

Viele der Ausstellungsinhalte stammen aus der Feder der Arbeitsgruppenmitglieder aus Mitholz, meint Barbara Keller. «Klar haben wir hier und da kuratorische Entscheidungen getroffen, doch die Ideen kamen zu einem grossen Teil von den Mitholzer*innen.»

Zu Konflikten sei es dabei erstaunlich selten gekommen. Dennoch offenbarten sich Unterschiede. So kann die enorme Verbundenheit mit einem bestimmten Haus an einem bestimmten Ort aus städtischer Perspektive zwar rational verstanden, aber wohl nicht emotional begriffen werden. Zu Konflikten habe aber auch das nicht geführt, sagt Keller: «Unsere Haltung war stets geprägt von Empathie und Solidarität.»

Mitholz 2040 – ein lebenswerter Ort?

Richten die Schmid und Grossen ihren Blick in die Zukunft, schwingt in ihren Worten mehr Gewissheit mit, als man aufgrund des langen Zeithorizonts annehmen könnte. «Für mich ist klar, dass ich nicht mehr zurückkomme», sagt etwa Dory Schmid.

«Für meine Enkelkinder hoffe ich aber, dass sie hier wieder ein schönes Dörfchen aufbauen können», führt Schmid weiter aus und in diesem Hoffen steckt die Überzeugung, dass es genauso sein wird.

Die helle Fluh über dem Dorf zeugt von der Explosion 1947. (Foto: Olivier Rüegsegger)

Auch Annelies Grossen schwebt ein lebenswertes Dorf vor, zumal die Digitalisierung das Wohnen in Bergregionen für Menschen mit einem Job in der Stadt attraktiv machen würde. Die Gemeinschaft müsste hingegen neu aufgebaut werden.

Dory Schmid wagt einen Vergleich mit den Achtzigerjahren: «Damals zogen viele Familien hier hin, die ebenfalls erst mal zu einer Dorfgemeinschaft zusammenfinden mussten.»

Manche, die bleiben könnten, gehen trotzdem

Nun müssen viele aus dem Dorf aber erst einmal wegziehen. Obschon für die meisten klar war, dass die Räumung notwendig ist, seien sie vom Ausmass dieses Projekts und dessen Folgen überrascht gewesen, sagt Schmid: «Dass dies ein Prozess von zwanzig Jahren wird, hätten wir uns nicht gedacht. An jenem 25. Februar 2020, als der Räumungsplan vorgestellt wurde, ist für mich schon eine kleine Welt zusammengebrochen.»

Noch während die Arbeitsgruppe gemeinsam die Ausstellung erarbeitete, gab das VBS für einen Teil des Dorfes Entwarnung: Die Gefahrenzonen waren neu evaluiert worden mit der Folge, dass nun doch weniger das Dorf für zehn Jahre verlassen müssen. Auf die Ausstellung habe sich das zwar nicht mehr ausgewirkt, doch sie habe sich für die Betroffenen gefreut, erzählt Dory Schmid, «aber dann dachte ich mir: Irgendwo musste die Grenze ja gezogen werden.»

Für mich war die Arbeit an der Ausstellung eine Vorarbeit für die Verarbeitung.

Tatsächlich lässt sich keine exakte Linie ziehen zwischen gefährdeten und total ungefährdeten Gebieten. Darum werden auch jene vom VBS entschädigt, die zwar bleiben dürften, aber freiwillig gehen. «Das VBS ist dankbar um alle, die während der Räumungsarbeiten nicht im Dorf bleiben», erklärt Annelies Grossen. Ausserdem müssten die Verbleibenden dennoch mit Lärm und Staub klarkommen. «Manche müssten zwischenzeitlich doch für paar Monate weg. Gerade mit Kindern ist das nicht sehr realistisch», erklärt Grossen weiter. Deshalb hätten sich viele dennoch fürs Wegziehen entschieden.

So auch der Sohn von Dory Schmid, der nach dem neuen Gefahrenperimeter hätte bleiben können. Er und seine Frau haben schon soviel Energie in ein neues Projekt gesteckt, dass sie trotzdem versuchen dies zu realisieren. Somit zieht Schmids gesamte Familie aus Mitholz weg und verlässt all das, was sie sich dort in über dreissig Jahren aufgebaut hat. Die Ausstellung im Alpinen Museum hilft nicht nur dabei, diese Geschichten zu erzählen. «Für mich war die Arbeit an der Ausstellung eine Vorarbeit für die Verarbeitung», sagt Schmid.

Und auch wenn ihr Herz sehr an diesem Ort und ihrem Haus direkt unter der Fluh hange, etwas kann Dory Schmid gut entbehren: «Die Strasse vor dem Haus werde ich nicht vermissen.»