Ein Blick voraus

von Christoph Reichenau 7. Mai 2024

Bühnen Bern Die traditionelle Enthüllung des Spielzeit-Programms von Bühnen Bern nimmt eine neue Wendung. Oper, Tanz, Schauspiel, Konzerte bieten viel. Doch bei Lesungen und gesellschaftlichen Debatten klafft ein Loch.

Rund 50 Premieren und Konzerte sowie zahlreiche Sonderveranstaltungen und Projekte bietet Bühnen Bern in der Saison 2024/2025.

Die Vorstellung des Spielzeit-Programms in Schauspiel, Tanz, Oper und Sinfonik ist ein Ritual. Üblicherweise sitzen die Spartenleitenden mit dem Intendanten auf zierlichen Stühlchen im rot-samten «vornehm tuenden» Foyer des Stadttheaters vor Wandspiegeln und erklären den brav aufgereihten Journalist*innen, welche wo schon aufgetretenen und ausgezeichneten Künstler*innen demnächst Bern welche Sternstunden bescheren werden. Alles ist besonders, kein Mittelmass, kaum ein Programmpunkt ist wie immer oder gar aufgewärmt. Man soll beeindruckt sein – und dies weitervermitteln.

Ein neues Format

Dieses Mal ist es anders. Die Theaterleute sitzen mit den Journalist*innen um einen grossen Tisch. Bei Kaffee und Gipfeli präsentieren sie, fast von gleich zu gleich, ihr Programm, an dem sie lange gearbeitet oder gebastelt haben und dessen Gehalt sowie die Aufführenden sie zusammengesucht und schliesslich gefunden haben. Wir anderen vernehmen von einem Moment zum anderen so viele Namen und Titel, dass es schwerfällt, sich sofort einen Gesamteindruck zu bilden. Einiges kennen wir, anderes sagt uns wenig oder nichts. Wir ahnen, dass nicht alles Gold sein kann, was glänzt, doch Wert und Unwert sicher zu unterscheiden, ist kaum möglich.

Von links nach rechts: Isabelle Bischof, Roger Vontobel, Florian Scholz und Rainer Karlitschek (Foto: Bühnen Bern).

Deshalb ist Bühnen Bern der Versuch hoch anzurechnen, für einmal Nähe zu erzeugen, Fragen und Bemerkungen zuzulassen und ernsthaft darauf einzugehen. Für alle Bernerinnen und Berner sei das Programm der Saison 2024-2025 gedacht, erklärt Intendant Florian Scholz, auch für jene, denen die samtene Anmutung des Foyers nicht vertraut sei. Und beinahe verfällt er in den alten Ton, wenn er die Abwesenheit des Operndirigenten Nicholas Carter damit entschuldigt, dass dieser gerade Wagners «Der Ring des Nibelungen» in Berlin dirigiere. Doch dann fängt er sich und erzählt als Verantwortlicher der Orchestersparte leuchtend vom Konzertprogramm. Und die anderen Spartenleiter*innen tun es ihm nach:


Die Frage nach kleineren Formaten

In der Diskussion klären die für das Schauspiel Verantwortlichen das Wort «Aufbrechen» zum vielleicht zentralen Motto ihrer Stückwahl. Wie eine oder einer auf die Welt schaut, wohin sie oder er blickt und sich aufmacht – und ob jemand einmal zurückkehrt ins Vertraute oder Veränderte und sich neu orientiert oder fremd bleibt. Für die Oper fügt Rainer Karlitschek bei, lasse sich als Generalfrage herausschälen: Können die Menschen das Leben selbstbestimmt wählen; dürfen sie leben, wie sie wollen? Angesprochen sind in dieser Betrachtung die Identität der Einzelnen, ihr Wandel, aber auch Begrenzungen durch Diskriminierungen oder gesellschaftliche und staatliche Verbote und Gebote.

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Die Frage nach kleineren Formaten – etwa Lesungen – führt von der Freiheit und Verantwortung künstlerischer Haltung zu den Zwängen des betrieblichen und finanziellen Korsetts. Auch wenn «nur» ein Text und eine Stimme nötig sind, um eine andere Welt erlebbar zu machen, kostet allein die Öffnung des Hauses, der Garderoben, der Kasse und des Einlasspersonals, für Löhne und Elektrizität und Sicherheit einiges an Geld.

Können die Menschen das Leben selbstbestimmt wählen; dürfen sie leben, wie sie wollen?

Intendant Florian Scholz erinnert mit Kampfgeist daran, dass dem Wegfall eines Anteils der Bundesmillion und der Kürzung der Subventionen von Stadt, Kanton und Regionalgemeinden schon jetzt eine Oper pro Saison zum Opfer gefallen ist, dass die Nouvelle Scène reduziert werden muss und ab der übernächsten Saison auf der Bühne im Stadttheater ensuite gespielt werden wird. Ensuite bedeutet: ein Stück wird in direkter Folge eine festgelegte Anzahl an Vorstellungen gespielt; nachher ist es vorbei. Zudem wird beispielsweise der Kinderchor komplett durch Spenden finanziert.

Das Berner Symphonieorchester im vergangenen Jahr (Foto: Bühnen Bern). 

Die Folge: Ab der Saison 2025/2026 werden insgesamt 30 Aufführungen weniger möglich sein. Dies indes scheine für die politisch Verantwortlichen kein Problem zu sein. Umso grösser sei die Freude, 2024/2025 ein Programm hingekriegt zu haben, das nicht nach Sparen rieche.

Theater für alle: Ein Komplize

Am Schluss wird der Berichterstatter zum Komplizen der Theaterleute. Alle wollen Theater für alle. Alle verstehen unter Theater auch die Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen unserer Gesellschaft und der Welt. Allen ist klar, dass es dabei auch um Unterdrückung und Gewalt in zahlreichen Ländern, um den russischen Krieg gegen die Ukraine, um den Hamas-Überfall auf Israel, die Geiselnahme und die humanitären Folgen im Krieg der israelischen Armee in Gaza gehen kann. Und ebenso wichtig sind Fragen der Identität, des heutigen Kolonialismus und der Ausbeutung von Menschen in der Schweiz.

Dann ist dies eine Kastrierung unserer Bedürfnisse als Menschen und politische Wesen.

Mit seiner seit Lessing historischen Erfahrung im Erzeugen von Mitgefühl, mit der Kenntnis künstlerischer Behandlung menschlicher Grundfragen kann und muss sich das Theater dazu äussern, um uns Gelegenheit zur eigenen und kollektiven Auseinandersetzung und Meinungsbildung zu bieten. Dies ist sozusagen die fünfte Sparte von Bühnen Bern. Wenn nun dies erschwert und verhindert wird, indem ein struktureller Fehlbetrag von rund 2 Millionen Franken pro Jahr die Nutzung der theatralen Ressourcen – Menschen, Räume, Phantasie und Haltung – einschränkt, dann ist dies kein Problem des Theaters allein. Dann ist dies eine Kastrierung unserer Bedürfnisse als Menschen und politische Wesen. Dafür müssen der Stiftungsrat von Bühnen Bern sowie die Vertreter*innen der Subventionsbehörden von Stadt, Kanton und Regionsgemeinden eine Lösung finden. Jetzt.

Das gesamte Programm der Spielzeit 2024/2025 findet sich hier.