Vor über eineinhalb Jahren stand Mürteza Dağ vor dem Staatssekretariat für Migration SEM in Wabern und forderte gemeinsam mit rund 30 Personen eine Untersuchung zum Tod seines Bruders. Mitte November 2020 hatte Sezgin Dağ im Bundesasylzentrum Kappelen über Herzbeschwerden geklagt. Die Verantwortlichen riefen statt einer Ambulanz ein Taxi. Auf dem Weg ins Spital verstarb Sezgin Dağ.
Das SEM drückte zwar sein Bedauern aus, konnte aber kein Fehlverhalten feststellen. Zwar war bekannt, dass Sezgin Dağ an Herzproblemen litt. Wenige Stunden vor seinem Tod wurde der Kurde jedoch im Spital untersucht und wieder entlassen. Nach seinem Tod leitete die Staatsanwaltschaft Berner Jura-Seeland eine Ermittlung ein, weil es sich um einen aussergewöhnlichen Todesfall handelt.
Wenige Stunden vor seinem Tod wurde Sezgin Dağ im Spital untersucht und wieder entlassen.
«Als aussergewöhnlicher Todesfall werden Todesfälle bezeichnet, bei denen die Todesursache nicht natürlicher Art ist, beziehungsweise zunächst nicht bestimmt werden kann», sagt Christof Scheurer, stellvertretender Generalstaatsanwalt des Kantons Bern und Informationsbeauftragter der Behörde. Aussergewöhnlich ist aber nicht nur der Tod von Sezgin Dağ, sondern auch die Dauer der Untersuchung.
Der Obduktionsbericht lässt auf sich warten
Im Februar 2021 – drei Monate nach dem Tod von Sezgin Dağ – erklärte Christof Scheurer, dass zu diesem Zeitpunkt keine konkreten Anhaltspunkte für strafbare Handlungen vorlagen. Stattdessen stehe ein medizinisches Problem im Vordergrund. Für das weitere Vorgehen wartete die Staatsanwaltschaft auf den Obduktionsbericht. Vor Anfang April 2021 dürfte dieser nicht vorliegen, so Scheurer.
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Ein Jahr später klang es ähnlich: Vor Mitte April 2022 sei nicht mit einem Abschluss des Verfahrens zu rechnen. Mittlerweile verfügte die Staatsanwaltschaft aber über den Autopsiebericht. Dieser war im September 2021 bei ihr eingegangen. Abgeschlossen ist das Verfahren aber nach wie vor nicht.
Kritik am Vorgehen der Behörden
Annina Mullis vertritt gemeinsam mit Philip Stolkin die Familie des Verstorbenen. Sie empfindet das Verfahren als träge. «Die Staatsanwaltschaft zeigt kein wirkliches Interesse an einer ernsthaften Untersuchung des Sachverhalts», sagt Mullis.
«Die Dauer des Verfahrens ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass der Autopsiebericht des Instituts für Rechtsmedizin viel Zeit in Anspruch genommen hat und sehr viele Beweisanträge nach zwei Verlängerungen von jeweils 30 Tagen gestellt wurden», sagt Christof Scheurer. Weshalb der Bericht so viel Zeit in Anspruch genommen hat, entziehe sich der Kenntnis der Staatsanwaltschaft.
Das Institut für Rechtsmedizin in Bern untersucht jährlich etwa 1000 aussergewöhnliche Todesfälle, wie Direktor Christian Jackowski sagt. «2020 und 2021 sind unsere Fallbearbeitungszeiten leider generell länger als üblich gewesen.» Einerseits musste das Institut seine systemrelevante Arbeit auch während der Pandemie unter erschwerten Bedingungen fortsetzen, andererseits stand 2021 ein Umzug an den zentralen Standort in der Murtenstrasse in Bern an – beides stellte für die Mitarbeitenden eine Zusatzbelastung dar, so Jackowski.
2020 und 2021 sind unsere Fallbearbeitungszeiten leider generell länger als üblich gewesen.
Auch Christof Scheurer von der Staatsanwaltschaft verweist auf die hohe Arbeitsbelastung der Angestellten. «Jede Staatsanwältin und jeder Staatsanwalts der regionalen Staatsanwaltschaft Berner Jura-Seeland hat durchschnittlich 85 Verfahren parallel zu führen», sagt er. Dazu kommen Pikettdienste, bei denen sie neue Fälle aufgleisen müssen.
Verfahren kurz vor dem Ende
Nachdem die Staatsanwaltschaft angekündigt hatte, die Untersuchung zum Todesfall von Sezgin Dağ einstellen zu wollen, haben Mullis und Stolkin Mitte März dieses Jahres einen Beweisantrag eingereicht. Sie forderten unter anderem, dass neben des Angestellten der ORS und der Securitas, die an jenem Abend das Taxi für Sezgin Dağ riefen, weitere Personen befragt werden: Mehr Angestellte und Bewohner des Asylzentrums sowie das ärztliche Personal, das Sezgin Dağ kurz vor seinem Tod untersucht hatte.
Zudem wollten die beiden Anwälte Einsicht in die medizinischen Unterlagen des Verstorbenen erhalten. Schliesslich kritisierten sie, dass die Obduktion nicht von einer Kardiologin oder einem Kardiologen vorgenommen wurde.
Angeschlagenes Herz oder angeschlagenes System
«Was wäre gewesen, wenn man Sezgin Dağ nach der Untersuchung nicht nach Hause geschickt hätte? Was wäre gewesen, wenn man eine Ambulanz statt eines Taxis bestellt hätte?», sagt Annina Mullis. Sie will die Frage klären, ob Sezgin Dağs Leben mit anderen Massnahmen hätte gerettet werden können. Eine Frage, die laut der Staatsanwaltschaft jedoch hypothetischer Natur sei und die niemand beantworten könne.
Was wäre gewesen, wenn man Sezgin Dağ nach der Untersuchung nicht nach Hause geschickt hätte? Was wäre gewesen, wenn man eine Ambulanz statt eines Taxis bestellt hätte?
Für sie tragen weitere Zeugenaussagen zum gesundheitlichen Zustand des Verstorbenen nichts zur Klärung des Falls bei – die Symptome seien bereits ausreichend von den beiden Angestellten beschrieben worden, die das Taxi gerufen haben.
Die medizinischen Unterlagen sind gemäss der Staatsanwaltschaft zudem in den Autopsiebericht eingeflossen, der somit ein komplettes Bild von Sezgin Dağs Gesundheitszustand zeichnet. Und dieses Bild besagt, dass sein angeschlagenes Herz jederzeit hätte aufhören können zu schlagen. Die Staatsanwaltschaft hat deshalb in einer Verfügung Ende März 2022 alle Anträge der beiden Anwälte abgelehnt.
Die Rechtsvertreter der Familie des Verstorbenen haben beim Obergericht Beschwerde gegen diese Verfügung eingereicht. Es sieht so aus, als ob Mürteza Dağ weiterhin auf Antworten zum Tod seines Bruders warten muss – sofern es sie überhaupt gibt.
Letztes Jahr gab es im Kanton Bern knapp 600 aussergewöhnliche Todesfälle, wie die Kantonspolizei in ihrer Kriminalstatistik festhält. Sechs davon betrafen Asylsuchende, wie sie auf Anfrage mitteilt. Bei aussergewöhnlichen Todesfällen muss die Staatsanwaltschaft von Amtes wegen ermitteln.
Weder die Polizei noch die Staatsanwaltschaft verfügen jedoch über Zahlen zur durchschnittlichen Untersuchungsdauer aussergewöhnlicher Todesfälle. Beide betonen, dass sie vom Umstand jedes Einzelfalles abhängig ist und somit nicht verglichen werden kann.
Die Priorisierung der Fälle liegt laut Christof Scheurer in der Verantwortung der einzelnen Staatsanwältinnen und Staatsanwälte. Befindet sich eine Person in Untersuchungshaft, schreibt die Strafprozessordnung jedoch vor, dass ihr Verfahren Vorrang hat. Weitere Kriterien für eine höhere Priorität sind beispielsweise die drohende Verjährung. Zur Priorität des Todesfalls von Sezgin Dağ konnte Scheurer keine Auskunft geben.