«Du kannst den Frauen beim Denken zuhören»

von Janine Schneider 22. Februar 2023

Im Hörstück «Eigentlich seit immer» erzählen drei frauenliebende Frauen über achtzig aus ihrem Leben. Schauspielerin Ruth Huber und Sounddesignerin Christina Baron stehen hinter dem Feature und sprechen über die Ambivalenz dieser Generation, überraschende Erkenntnisse und die Vorzüge des Hörens.

Treffen mit Ruth Huber und Christina Baron in der Cafébar des Generationenhauses. Ein passender Ort, denn in ihrem Hörstück «Eigentlich seit immer» sind es drei Frauen Generation 80plus, die zu Wort kommen und aus ihren ungewöhnlichen Lebens- und Liebesgeschichten erzählen. Das Hörstück wurde 2021 mit dem Katalysatohr Förderpreis ausgezeichnet und wird am diesjährigen Sonohr Festival zum ersten Mal zu hören sein.

Journal B: «Eigentlich seit immer»  –  dieser rätselhafte Titel bleibt haften. Worauf spielt er an?

Christina Baron: Eine der Frauen sagt im Stück: «Eigentlich habe ich es im Kindergarten schon gewusst.» Wir mochten diesen Widerspruch: Die Frauen haben es schon immer gewusst, aber eben nur «eigentlich».

Ruth Huber: Uns war es auch ein wichtiges Anliegen, mit diesem Projekt zu zeigen, dass es schon immer lesbische Beziehungen und Frauenliebe gab, auch wenn es nicht auf der Hand lag. Es ist Zeit, unser Bild der Vergangenheit zu revidieren.

Im Hörstück erzählen Christine, Margrit und Ruth aus ihrem Leben. Wie kam es zur Begegnung mit den drei Frauen?

Huber: Die Recherchen und Aufnahmen, auf denen unser Stück basiert, stammen alle von Corinne Rufli. Sie ist Historikerin und Kulturjournalistin, forscht schon sehr lange zu lesbischen Frauen in der Schweiz und hat auch ein Buch dazu herausgegeben: «Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert». Ich habe es gelesen und wollte gerne etwas dazu machen. Ausserdem vermutete ich, dass sie auf einem Berg aus Tonmaterial sitzt.

Baron: Sie war sofort dabei und stellte aus den unzähligen Gesprächen, die sie geführt hatte, eine Vorauswahl zusammen: Lebensgeschichten, die unterschiedlich waren und von denen sie annahm, dass die Frauen bereit wären, ihre Erzählungen zu einem Hörstück verarbeiten zu lassen.

Huber: Ich habe mit ihr zusammen dann die endgültige Auswahl getroffen. Anfangs hatten wir etwa 16 Stunden Gesprächsmaterial zur Verfügung. In eineinhalb Jahren Arbeit haben Christina und ich diese auf 53 Minuten kondensiert.

Ein Auszug aus dem Hörstück «Eigentlich seit immer»

Im Feature wird die Bandbreite der Erfahrungen hörbar. Margrit wusste schon als Kind, dass sie lesbisch ist, die zwei anderen haben erst später, Ruth sogar erst mit sechzig Jahren herausgefunden, dass sie Frauen lieben. Was verbindet diese Frauen?

Huber: Dass es keine Selbstverständlichkeit war, Homosexualität zu leben. Alle drei Frauen haben eine ambivalente Haltung dazu. Auf der einen Seite gibt es eine grosse Natürlichkeit, mit der sie über ihre Liebe zu Frauen sprechen. Auf der anderen Seite dann doch wieder eine gewisse Vorsicht: Wie nimmt mich die Gesellschaft wahr? Wie gehe ich mit Widerständen um? Wie offen will ich sein? Wie bezeichne ich mich selbst? Sogar Margrit, die politisch in ihrem Leben sehr aktiv war, erklärt, sie erzähle nicht allen von ihrer Frauenliebe. Da sehe ich einen grossen Unterschied zu heterosexuellen Beziehungen der damaligen Zeit.

(Foto: Noah Pilloud)

Welche Aspekte an den Erzählungen der Frauen haben euch überrascht?

Baron: Dass sie über Sex reden, hat mich schon überrascht.

Huber: Offener als ich es würde (beide lachen).

Baron: Dann hat mich auch überrascht, wie vehement zum Beispiel Christine behauptete, keine Probleme gehabt zu haben. So erzählt sie davon, wie sie mit einer Frau zusammenzog. Da sie beide relativ bekannt gewesen seien, wäre es eine schwierige Zeit gewesen. Und fügt dann sogleich an: «Aber Probleme hatten wir eigentlich nie.»

Huber: (überlegt) Überrascht ist vielleicht das falsche Wort. Aber mein Bild dieser Generation hat sich auf jeden Fall verändert. Zwar wusste ich, dass es schon immer lesbische Beziehungen und Frauenliebe gegeben hat. Das war für mich kein neues Thema. Aber richtig in meinem Bewusstsein angekommen, war es nicht. Ich habe mir nie überlegt, dass die älteren Frauen, die mir auf der Strasse begegnen, ihr Leben vielleicht auch mit einer Frau verbracht haben könnten.

Gibt es Geschichten oder Anekdoten, die euch besonders geblieben sind?

Baron: Ich habe es so oft gehört, ich kann‘s auswendig (lacht laut). Nein, aber es haben sich tatsächlich sehr viele Redewendungen der Frauen in meinen Alltag eingeschlichen.

Huber: (zitiert) «Ich ha überhaupt ned an Gruppesex denkt!»

Baron: (zitiert) «Das hett sich eifach so ergee i dem Gwuscht dinne.» (lachen beide) Das mit dem Gruppensex sag ich jetzt nicht so oft (lacht wieder). Aber es ist schön, dass es Wörter oder Sätze gibt, die in meinem Alltag immer wieder auftauchen. «Brösmelistaubsüügerli» zum Beispiel.

Im Hörstück gibt es keine zusätzlichen Kommentare. Ihr lasst die Frauen einfach erzählen, ohne sie eingangs vorzustellen. Es ist im Nachhinein auch nicht ganz einfach, den drei Stimmen die jeweiligen Lebensgeschichten zuzuordnen.

Baron: Es ging uns weniger darum, dass man nach dem Stück drei Lebensstränge im Detail nacherzählen kann, sondern vielmehr darum, was die Frauen dieser Generation erlebt haben und wie sie darüber sprechen.

Huber: Uns war es auch wichtig, dass man nicht beginnt, neue Stereotypen zu bilden, nach dem Motto «aha, sie ist dieser Typus und sie dieser». Sondern dass die Offenheit beibehalten wird. Dass es mehr um die Gedanken und um den Erinnerungsprozess geht, statt darum, etwas genau festzuschreiben.

Am Sonohr Festival wird euer Hörstück im Kino Rex gespielt – wo sonst nur Filme laufen. Was kann ein Hörstück, das ein Film nicht kann?

Huber: Es gibt viel Freiraum. Die Leinwand, die leer bleibt, ist ein sehr schönes Sinnbild dafür, was wir mit unserem Hörstück «Eigentlich seit immer» vermitteln wollen. Es geht um Freiraum, um Vielfalt und um Offenheit. Nicht darum, etwas festzuschreiben. Und der Prozess des Erzählens und Erinnerns ist auch etwas sehr Fragiles und Diffuses. Es gibt nicht unbedingt eine Wahrheit oder eine Erzählweise. Statt dich wie bei einem Film auf das Visuelle zu konzentrieren, kannst du den Frauen beim Denken zuhören. Und dich auch auf ihre Sprache konzentrieren. Was haben sie überhaupt für eine Sprache, um über dieses Thema sprechen zu können?

Baron: Im Film hast du Bilder vorgegeben. Hier kannst dir du deine eigenen Bilder machen. Der Interpretationsspielraum ist viel grösser. Manche Leute machen sich ja auch gar keine Bilder und hören einfach zu.

Huber: Schlussendlich glaube ich, dass beide Formen passend sein können. Dieses Thema ist ja sowieso noch sehr wenig beachtet, daher…

Baron: … könnte man gerade so gut auch noch einen Film darüber machen.