Drei Sätze, die es in sich haben

von Christoph Reichenau 30. Juli 2019

Die grösste Gratiszeitung der Schweiz fährt eine aktuell eine Werbekampagne mit Aussagen, die zum Stolpern anregen. Der Tamedia-Verlag untergräbt damit den Wert der eigenen Lokalzeitungen wie Bund und BZ.

Drei Sätze sind in Bern überall zu lesen:

  • Jetzt bildet man sich hier die Meinung.
  • Jetzt ist «gratis» doch etwas wert.
  • Jetzt versteht man, was man liest.

Grosse weisse Plakate werben für die Gratiszeitung «20 Minuten» aus dem Verlag Tamedia, der auch den «Bund» und die «Berner Zeitung» herausgibt. Auf jedem Plakat steht einer der drei Sätze. Jeder ist eine Anmassung. Jeder führt in die Irre.

«Jetzt versteht man, was man liest.» Im Ernst: Versteht man nicht, was in den anderen Zeitungen steht? Sind die Artikel zu kompliziert geschrieben? Setzten sie zu viel voraus? Im Einzelfall mag dies sein, die Regel ist es nicht. Im Normalfall sind die Texte nicht anspruchsvoller als die Themen. Und wenn «20 Minuten» jetzt – endlich, soll es heissen – verständlich sein soll, dann muss man sich fragen, ob verständlich nicht simpel bedeutet. Zu simpel.

Wenn die Gleichung «verständlich = simpel» stimmt, ist das dann eine gute Grundlage für die Meinungsbildung? Sich eine Meinung zu bilden, heisst, selber denken. Um den eigenen Kopf einzusetzen, braucht man solide Grundlagen, Tatsachen und Einschätzungen. Diese können bei schwierigen Themen (Beispiele Soziale Sicherheit oder Klimapolitik) nur kontrovers sein. Finden wir dies in «20 Minuten»?

In 20 Lese-Minuten mit erheblichem Anteil an Glanz und Gloria zieht man sich im besten Fall die oberflächlichen Meldungen hinein. Man erfährt auf diese Weise über die allgemeinsten Themen gerade: Was, wer, wie, wo. Also genau das, was jedes elektronische Bling-Bling-Portal bietet. Ebenfalls gratis. Keine lokale und regionale Nahsicht. Keine inhaltliche Vertiefung.

Das Nächstliegende auf die simpelste Weise dargeboten, ohne Chance zur eigenen Meinungsbildung. Das ist mehr als gratis. Es ist billig.

Wenn ich beim «Bund» oder bei der «Berner Zeitung» arbeitete, wüsste ich dank der Plakate, was die Herren in Zürich von dem halten, was sie in Bern an medialem Einheitsbrei servieren: Nichts – unverständlich, wertlos, ohne Bedeutung für die Meinungsbildung der immerhin zahlenden Leserinnen und Leser, Abonnentinnen und Abonnenten. Denn nichts kommt an «20 Minuten» heran. Wie muss man sich vorkommen, wenn der Verlag die eigenen Tageszeitungen abkanzelt, um das wertlose Gratisprodukt aus dem gleichen Haus schamlos zu bewerben? Es scheint mir auch eine Frage der Selbstachtung zu sein, wie lange man sich dies antut.