Seit Jahresbeginn ist die Welt schon gefühlt fünfmal untergegangen. Zum Glück gibt es noch Musik, und zwar richtig gute. Wir haben für dich drei Schätze aus dem Berner Untergrund gehoben und mit den Künstler*innen dahinter gesprochen. Im Angebot: Melancholische Coming-Of-Age Songs, feministische Pilznetzwerke und Musik, die klingen soll wie Süssigkeiten-Blauschimmelkäse. Alles klar? Los geht’s.
Das Wichtigste in Kürze:
- Finja Kejo- 5: Die umtriebige Berner Kulturschaffende hat ihr erstes selbstproduziertes, sagenhaft schönes Solo-Projekt veröffentlicht.
- Aino Salto – Imagine People As Adolescent Birds: Das erste Solo-Projekt von Sonia Loenne überrascht mit dichten Art-Pop Stücken und spannender Instrumentation.
- COCON JAVEL – Put all Your Money into therapy: Das Berner Trio singt auf ihrem Erstling über Selbstoptimierung, Selbstliebe und andere schwierige Dinge.
1. Finja Kejo – «5»
Finja Keogh ist in der Berner Kulturszene kein fremdes Gesicht. Die 23-Jährige hatte schon im Gymnasium mit KEO eine erste Band, später in der potent besetzten Berner Indie-Gruppe Alva Leaves gesungen und hat zwei Jahre lang im Kulturort Heitere Fahne Bands betreut und Events organisiert. Vor eineinhalb Jahren kam bei ihr der Wunsch auf, selbst zu produzieren, wie sie «Journal B» im Gespräch sagt. Mithilfe von Freund*innen und Youtube-Tutorials sei sie zur klassischen «Bedroom-Produzentin» avanciert, erzählt sie mit einem Lachen. In einer Residenz in Barcelona und in Co-Produktion mit Produzent Liam Maye (u.a. für Nemo) ist jetzt eine erste EP entstanden.
Und die hat es in sich. In fünf Songs, die sich kaum in Genres stecken lassen, kreist sie ums Erwachsen-Werden. Ob es um die Ratschläge einer guten Freundin («A’dvice»), deplatzierte Eifersucht («Honest») oder das Rationieren des eigenen Glücks geht («Superstition») – «5» ist 12 Minuten melancholisches Coming-Of-Age. Am meisten überzeugt die vielschichtige Produktion. Keoghs Vocals verschmelzen mit den Instrumentals, igeln sich in Gitarren und Samples ihrer eigenen Stimme ein. Das gibt intime Gesamtpakete, die mit ihren verzogenen Vocals stellenweise an eine Art Gen-Z Bon Iver erinnern.
Für Finja Keogh ist die EP vor allem ein erster Schritt. Für sie sei so «die erste Seite im Skizzenbuch gefüllt.» Im Moment stellt sie eine Band zusammen und bereitet die Songs für die Bühne vor, Konzertdaten sind noch keine bekannt.
2. Aino Salto – Imagine People As Adolescent Birds
Aino Salto, das ist das erste Solo-Projekt von Sonia Loenne. Loenne wohnt seit bald fünf Jahren in Bern, arbeitet unter anderem für die bee-flat Konzertserie im Progr und spielt in verschiedenen Bands (Bureau Bureau, Edna). Sie hat Jazz-Gesang und Komposition studiert, ursprünglich ist sie deshalb für ein Austauschsemester nach Bern gekommen. Geblieben ist sie wegen der freien Improvisationsszene und den Menschen. An Bern gefalle ihr, dass man noch sehe, dass es in die Natur gebaut sei. Von ihrem Fenster sehe sie den Gurten und auf dem Velo spüre sie das hügelige Terrain bis in die Muskeln: «Man merkt dann irgendwie, die Erde war schon da.», sagt sie am Telefon.
«Our love will be the weather system
Listen to the fucking Sunshine!»
– Aino Salto, Powerlines

Mitten in die Natur gebaut ist auch das Mini-Album «Imagine People As Adolescent Birds». Schon im Titel sollen wir uns Menschen als heranwachsende Vögel vorstellen, später dann den Sonnenstrahlen zuhören («Powerlines») und zum Schluss zeichnet sie ein Bild der Zukunft als feministisches Pilznetzwerk («Mother Mushroom»). Pilze? Die Musikerin fasziniert, dass gewisse Pilz-Arten tausende Geschlechter haben und Bäume durch sie hindurch kommunizieren. Diese Art von Kollektivität und Kollaboration zwischen ganz unterschiedlichen Organismen habe sie zu Songs wie «Mother Mushroom» inspiriert.
«So, the motherland is a mushroom, is everybody’s moon.»
– Aino Salto, Mother Mushroom
Schlaue Texte, spannende Arrangements
Es sind durchdachte, dichte Texte. Aino Salto packt in sieben Songs, was anderen für fünfzehn reicht. Sogar schwere Songs wie «We Must Have Been Asleep», in dem es um sexualisierte Gewalt geht, sind so raffiniert arrangiert, dass sie zugänglich werden. Die Vocal-Performances fühlen sich unglaublich greifbar an, der Jazz taucht in überraschenden Melodien immer wieder an die Oberfläche.
Entstanden seien die Songs am Klavier, so klangen sie der 28-Jährigen aber zu klagend. Sie wollte, dass es «happy» klingt und holte sich dazu ihre «Lieblings-Musiker*innen» ins Boot. So entstand dann auch die für Pop ungewöhnliche Instrumentation: Die Mischung aus Kontrabass, Flügelhorn und Keys gelingt und erinnert an den Indie-Klassiker «Fetch The Boltcutters» von Fiona Apple. Statt der radikalen Selbstbefreiung (Hol den Bolzenschneider) interessiert sich «Imagine People As Adolescent Birds» aber fürs Zusammenkommen, fürs Lernen von der Natur und für optimistische Blicke auf Gegenwart und Zukunft.
3. COCON JAVEL – Put All Your Money Into Therapy
Sie bezeichnen ihren eigenen Musikstil als «Candy Roquefort», Süssigkeiten-Blauschimmelkäse. Auf dem Cover ihrer EP posieren «COCON JAVEL» dann als Blumen im industriellen Warenlift und der Bandname ist Bleichmittel und Edelduft zugleich. Sie interessieren, sich für Kategorien und Gegensätze, erklärt Sängerin Julie B. im Gespräch. «Wie kommen wir klar auf eine Welt, die uns immer wieder in Kategorien stecken will?». Ob Geschlecht oder Klasse, die Band finde viele Normen ungesund – Deshalb spielen sie mit Ambivalenzen und Gegensätzen.
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So sei auch der Titel der EP zu verstehen. «Put All Your Money Into Therapy» ist halb aufrichtige Empfehlung, sich Sorge zu tragen, halb Kritik an der stetigen Selbstoptimierung. Die Songs hat das Trio, bestehend aus Julie B. (Künstlername), Athina Dill und Mélusine Chappuis, gemeinsam geschrieben. Entstanden ist die Band an der Hochschule der Künste Bern, wo alle drei Jazz studierten. Nach einigen gemeinsamen Projekten suchten Chappuis und Dill für ein Projekt eine Sängerin. Im Januar 2024 steht «COCON JAVEL» zum ersten Mal auf der Bühne. Ein Jahr später steht eine mutige erste EP da.

Zwischen wummernden Synthesizern und eingängigen Texten glänzt das Projekt auch mit ruhigen Momenten. Etwa, wenn Keyboarderin Mélusine Chappuis (u.a. ARBRE) auf «Alright» mit einem wunderbar verzerrten Solo in den Vordergrund tritt.
Die vier Songs sind schrill, experimentell, laut. Und nicht immer ganz einfach zu hören. Das ist Konzept: «Candy Roquefort» liegt schliesslich auch nicht leicht auf dem Magen. «Put All Your Money Into Therapy» macht auf jeden Fall Appetit auf mehr.