Draussen vor der Tür

von Christoph Reichenau 15. April 2019

Eine verwickelte Geschichte, ein farbiges Spektakel: Der Zirkus kommt 1866 nach Murten und bringt die Welt ins Städtchen. Und den Elefanten. Was gut beginnt, endet tragisch. Ein Lehrstück, leider etwas zäh. Doch der Rüssel des Elefanten bezaubert.

Golden steht er auf der Freitreppe zum Stadttheater, ein wenig behindert er den Zugang ins Foyer, man kommt ihm sehr nahe und nimmt staunend die mächtigen Beine, die gefurchte Haut, die schiere Grösse wahr. Ein Elefant wie aus dem Bilderbuch, glänzend, kostbar, exotisch. Vom Dach des Naturhistorischen Museums, wo er sonst erhaben thront, ist er zu den Menschen hinabgestiegen und wirkt aus der Nähe fremder als in der Ferne. Der Elefant ist in der Stadt, kraftvoll, nahbar, still.

Der Zirkus kommt

Obwohl er draussen bleibt, ist er im Theater omnipräsent, Sinnbild und Projektionsfläche des anderen, nie gesehenen, Wunderbaren und Ängstigenden. Der Elefant verkörpert das Fremde an sich, das mit dem Zirkus unerwartet ins das Städtchen einzieht und für ein paar Tage das gewohnte Leben aus den Fugen hebt. Träume, Sehnsüchte, Erfindungen, in der Nacht gehegt, am Tag verleugnet, drängen ans Licht. Der Wandel in der Welt erfasst den kleinen Ort, der sonst abseits vom Mahlstrom der Geschichte lebt.

1866 ist das. Gründerzeit. Die industrielle Revolution verändert alles, doch in Murten soll der Sohn dem Vater als Metzger nachfolgen wie seit Generationen. Die Sesshaftigkeit fordert Kontinuität, die nomadisierenden Zirkusleute zeigen eine andere Art zu leben. Aus der Not, aus dem Willen zur Freiheit. Sie regen den Möglichkeitssinn an.

Sie und wir

Der alte Jeremias Frey (Marco Morelli) erinnert sich. Ein junger Bursche war er damals, wollte Ingenieur werden, eine Flugmaschine erfinden, um nach Paris zu entfliehen, zur Weltausstellung, an die grosse Schau der Moderne, des Fortschritts. Dummes Zeug, polterte der Vater (Stéphane Maeder), Metzger, gegen aussen hart und stark und doch weich und ängstlich, als er merkt, dass er den Sohn verlieren könnte, den er immer nur anschnauzt. Heimlich baut Jeremias (als jung: David Berger) einen «Göppel», eine Maschine, die Kraft erzeugt für einen beliebigen Zweck. Doch es ist nicht der zweckmässige Göppel, sondern die letztlich zweckfreie Flugmaschine, durch die er der Seiltänzerin Miranda (Sonja Riesen) nahe kommt, mit der er das «wir» entdeckt.

Auch andere Murtener und Murtenerinnen entdecken den Möglichkeitssinn, erleben ihre Verführbarkeit, lassen sich vom Anderen der Zirkusleute anstecken. Die Ambivalenz wird auf der Bühne differenziert erlebbar, wenn eine Schauspielerin (Chantal Le Moign) die tüchtige Wirtin sowie die laszive Schlangenfrau spielt, wenn der exotische Zirkusdirektor und der faktenbesessene Lehrer vom gleichen Schauspieler (Dominique Jann) gegeben werden, wenn die unbefriedigte Gattin des Stadtpräsidenten auch die schamanische Wahrsagerin darstellt und dem unerfüllten Kinderwunsch auf den Grund geht (Marie Popall) oder wenn der zögerliche Stadtpräsident mit dem Kraftmeier Samson abwechselt (Jürg Wisbach).

Der Elefant ist los

Im Gang ist ein Wandel durch Annäherung. Doch plötzlich ist es zu viel. Das Eigene erscheint den Leuten im Städtchen bedroht, der Feind ist rasch benannt, der Sündenbock muss weg. Mitten in der Nacht scheucht die Bürgerwehr die Zirkusleute auf. Der Elefant erschrickt, bringt den Dompteur um und zerstört einiges, bevor er fast friedlich in den Gassen bummelt. Nichts hilft gegen ihn ausser einer Kanone. Die wird in Stellung gebracht. Mangels eines Kanoniers feuert Jeremias die Kugel auf den Elefanten ab. Vergeblich hatten ihn die Zirkusleute abzuhalten versucht, denn mit dem grossen Tier stirbt nicht nur eine würdevolle Kreatur, sondern auch die Lebensgrundlage der Wandertruppe. Und Jeremias verpasst es, seinen Traum des «wir» mit Miranda zu leben.

Der Rest ist rasch erzählt. Die Truppe löst sich auf, jede und jeder geht den eigenen Weg, auch die Seiltänzerin. Jeremias besucht die Weltausstellung in Paris, wo die Zukunft erfunden wird, kehrt aber nach Murten zurück. Miranda wird er sein Leben lang nachtrauern und überall suchen. Im Städtchen kehrt Ruhe ein und deckt die Träume und Sehnsüchte zu. Wenn der Metzger das Fleisch des toten Elefanten teuer verkauft, ist er bald als Wucherer verschrien. Sündenböcke finden Unzufriedene nun wieder innerhalb der Stadtmauern.

Die Träume der Jugend nicht vergessen

Der alte Jeremias – jetzt auf einer Industrieanlage mit Förderturm und Rohranlagen – streicht wehmütig über den Göppel, seine erste Erfindung, seine Berufung. Er hat die Mahnung von Marquis Posa in Schillers Don Karlos nicht befolgt: «Sagen Sie ihm, dass er für die Träume seiner Jugend soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird.»

Und der Elefant? Niemand hat von ihm mehr gesehen und gehört als den riesigen Rüssel und das dumpfe Schnauben. Und doch stand er immer im Raum, als Idee, als Projektion. Dieser Rüssel – eine imponierende raumhohe Konstruktion aus miteinander verbundenen Kübeln wie sie bei Abbrucharbeiten am Bau verwendet werden, umhüllt von weisser Gaze. Die Beweglichkeit des Rüssels: eine bühnenbildnerische Glanzidee, die entfernt an Verhüllungen von Mummenschanz erinnert.

Überhaupt das Bühnenbild: Renato Grob hat mit ein paar drehbaren Boxen auf Rädern, die ständig verschoben werden, viele kleine Schauplätze geschaffen, auf denen manchmal gleichzeitig Verschiedenes passiert. Dies ermöglicht intime Einblicke. Es zeigt die Vereinzelung der Menschen, ihre Unterschiedlichkeit, die Beweglichkeit der zwischenmenschlichen Konstellationen. Ein Wurf. Und wer sich an die Expo 02 auf der Arteplage in Murten erinnert, glaubt einen fernen Anklang an Jean Nouvels rostende Cabanes zu erkennen, die am Seeufer standen.

Hingehen trotz allem

Alles toll also? Nicht ganz. Eine wahre und wichtige Erzählung (Augenzeugenbericht Johann Frey, Buch Uwe Lützen) ist noch kein packendes Bühnenstück. Im längeren Teil vor der unmotivierten Pause kurz vor Schluss mäandert das Geschehen zäh und unentschieden durch die lang werdende Zeit. Alles ist richtig, doch es dringt nicht zu mir. Glanzlichter – das Bühnenbild, die Doppelrollen, die Kostüme (Justina Klimczyk) – heben das Geschehen nicht aus der melassehaften Klebrigkeit. Das Dringliche der Erzählung, ihre historische Wahrheit und gleichzeitig ihre Mahnung an uns heute – es erreicht nie die nötige Kraft. Wie der Göppel von Jeremias auf die Bestimmung wartet, wozu seine Kraft genutzt werden soll, so läuft der Aufwand der Inszenierung (Jonathan Loosli/Mathis Künzler) oftmals leer. Und das Berndeutsche des alten Jeremias wirkt hölzern wie aus papierenem Hochdeutsch übersetzt.

Das ist eine verpasste Chance. Denn der Stoff ist grossartig. Er hat mit uns zu tun, in Murten, in Bern. Das Skelett des Elefanten dreht sich heute real im Naturhistorischen Museum. Die Zusammenarbeit zwischen diesem und dem Stadttheater ist lobenswert. Sehr zu rühmen ist auch der Beizug der freien Theatergruppe Vor Ort und besonders und des freien Schauspielers Marco Morelli in Gestalt des alten Jeremias.

Was nun? Hingehen, aller Einwände zum Trotz. Es ist sehr verdienstvoll, dass sich das Stadttheater unserer hiesigen Geschichte annimmt. Und der hiesigen freien Szene. So oft geschieht dies nicht. Einem Projekt, das gerade erst anläuft, muss man Schwächen nachsehen.