Es war ein historischer Moment: Letzten Freitag fand in Bern die erste Behindertensession in der Geschichte der Schweiz statt. Nationalratspräsident Martin Candinas hat diesen starken Symbolmoment ermöglicht und 44 Menschen mit Behinderungen ins Bundeshaus geladen. Die Zahl 44 steht dabei für den Anteil von 22 Prozent an Menschen mit Behinderung gemessen am Parlament der Schweiz.
Die 22 Prozent – das sind 1.8 Millionen Menschen in der Schweizer Bevölkerung – bilden dabei ein grosses Spektrum: Neben denjenigen, die seit Geburt körperlich oder geistig behindert sind, gehören dazu auch Menschen, die im Laufe des Lebens körperlich oder psychisch schwer erkranken. Gemäss Definition der WHO ist ein Mensch dann behindert, wenn er langfristige Beeinträchtigungen hat, die ihn an der vollen Teilhabe am Leben hindern.
Kopfzerbrechen bei der Vorbereitung
Das Wahlprozedere und die Zusammensetzung der Behindertensession hat die Veranstalterin Pro Infirmis im Vorfeld beschäftigt: «Wir haben das Wahlverfahren lange debattiert und mit der Kommission besprochen, um zu einer Lösung zu kommen. Das war eine Knacknuss», sagt dazu der Politikverantwortliche der Pro Infirmis, Philipp Schüepp. Man habe keine Zusammensetzung nach einer rein medizinischen Definition von Behinderung vornehmen wollen. Es sei deshalb nicht infrage gekommen, bei allen Teilnehmenden die Diagnose abzufragen und dann eine genaue Quote entsprechend der realen Proportionen vorzugeben.
An der Session gab es daher eine nur minimale Quote: Pro Behinderungsart (körperlich, psychisch, kognitiv und sensorisch) sollte mindestens eine Person an der Session vertreten sein. Ein Blick auf die Porträts auf der Website der Pro Infirmis zeigt aber, dass körperlich- und sinnesbeeinträchtigte Menschen deutlich stärker vertreten waren als Menschen mit unsichtbaren, psychischen oder kognitiven Behinderungen.
Thematisierung an der Session statt Eingriff in die Wahl
Pro Infirmis ist sich bewusst, dass das Behindertenparlament vom letzten Freitag auch ein Abbild der gesellschaftlichen Diskriminierung ist: Körperlich behinderte Menschen werden leichter gewählt als solche mit einer offen kommunizierten psychischen oder kognitiven Beeinträchtigung. Aber es sind nicht nur die Wähler*innen, die dafür den Ausschlag gaben. Pro Mente Sana, die grösste Stiftung für psychisch Erkrankte in der Schweiz, gibt auf Anfrage an, sie habe aktiv nach Kandidat*innen gesucht. Da nur sehr wenige Angaben zu den Kandidat:innen publiziert wurden, konnte Pro Mente Sana nicht nachverfolgen, wer sich zur Wahl gestellt hatte. Eine kurze Umfrage von Reporter:innen ohne Barrieren in der Mental Health Community zeigt einen weiteren Grund: Viele Menschen mit psychischer Beeinträchtigung tun sich schwer mit dem Begriff Behinderung.
Die von Pro Infirmis zur Vorbereitung eingesetzte Kommission um Christian Lohr, Nationalrat Die Mitte, TG und Simone Leuenberger, Grossrätin EVP im Kanton Bern, hat sich entschieden, das Thema Diskriminierung mit an die Session zu nehmen und zu thematisieren. Tatsächlich waren dann auch einige wenige Voten zu hören, die in diese Richtung gingen: Parlamentarier Michel Rapelli, Informatiker und Autismusexperte, erklärte, warum die Unterscheidung zwischen körperlicher und psychischer Behinderung wichtig ist. Einerseits deshalb, weil sich daraus auch unterschiedliche Massnahmen ergäben im Umgang damit. Andererseits sei wichtig zu beachten, dass die Unsichtbarkeit einer Behinderung eine zusätzliche Erschwernis darstelle.
Wir haben das Wahlverfahren lange debattiert und mit der Kommission besprochen, um zu einer Lösung zu kommen. Das war eine Knacknuss.
Bruno Facci, Vertreter für Menschen mit psychischer Erkrankung aus Sankt Gallen, machte in seinem Votum darauf aufmerksam, dass in der Behandlung von Menschen mit psychischer Erkrankung die UNO-Behindertenrechtskonvention nach wie vor nicht vollständig umgesetzt sei und es zur Verletzung von Menschenrechten komme.
Künftige Behindertensession mit verändertem Wahlprozedere
Nicht ganz zuletzt dürfte auch das Wahlverfahren dazu beigetragen haben, dass dieses Behindertenparlament eher einseitig zusammengesetzt war. Durch das gewählte Majorzwahlsystem hatte jede*r Wähler*in nur eine Stimme; so wurden bereits vorhandene Mehrheiten verstärkt. Dazu Philipp Schüepp von Pro Infirmis: «Es wäre schon bei dieser Wahl unser Wunsch gewesen, dass die Kandidat*innen mehr Raum erhalten, um ihre Message und ihr Profil sichtbar zu machen. Das war in der kurzen Zeit leider nicht machbar. Zusätzlich würden wir das nächste Mal versuchen, dass eine Wahl mehrerer Kandidat*innen pro Stimmabgabe möglich wäre.» Bereits diese Massnahmen könnten dazu beitragen, dass ein künftiges Behindertenparlament ausgewogener wäre.
Eine weitere Behindertenkonferenz scheint realistisch. Schelmisch verkündete Christian Lohr ganz am Ende: «Ich überschreite meine Kompetenz und verkünde: Es wird eine weitere Behindertensession geben!»