Hinter einem kleinen, noch dicht grün bewachsenen Hain steht das Atelier von Marco Morelli. Wer durch die beschauliche Siedlung Eymatt bei Hinterkappelen läuft und den richtigen Weg zwischen den Bäumen einschlägt, steht plötzlich vor dem einfachen Gebäude, in dem der Künstler seit einem Jahr wirken darf. Morelli sitzt draussen unter dem Vordach und raucht, an seinem linken Ohr baumeln zwei Büroklammern. Neben ihm am Boden steht ein kleines Podest auf vier Beinen. Es ist ein altes Requisit. «Seit meinem Bandscheibenvorfall kann ich es nicht mehr gebrauchen», sagt Morelli, «ich habe zu wenig Kraft im Fuss für diese clowneske Nummer.»
«Die Figur des Morelli hatte nie ein Handicap»
Ausführlich und mit der ihm typischen bewegten Gestik erzählt er, wie sein linker Fuss beim Laufen diesen sogenannten «Steppergang» mache, da er nicht mehr über die Ferse abrollen könne, und der Vorderfuss so jeweils geräuschvoll auf den Boden schlage. Vor etwa zweieinhalb Jahren begannen die Rückenprobleme des Clowns, Zauberers, Alleinunterhalters, des «Morelli». In diesem Sommer nun, nach einem erneuten Rückfall hat er beschlossen, die Soloschiene an den Nagel zu hängen. «Die Figur des Morelli hatte nie ein Handicap», erklärt er, «deshalb musste ich diese jetzt aufgeben.» Leicht könnte man versucht sein, an das Bild des gealterten, traurigen Clowns zu denken, angesichts dieser Probleme. Morelli liefert einem aber keinen Grund dazu. Plötzlich zeigt er auf das kleine Trapez, das unter dem Vordach hängt. «Damit mache ich ds ‚Chaubli‘ um den Rücken zu strecken, das tut mir gut.» Mit seinen langen und kräftigen Fingern drückt er entschlossen die Zigarette in den Aschenbacher, zwei Sekunden später hängt er kopfüber in der Luft. «Mein Arzt meint, das sei schön und gut, aber wenn ich wieder runterkomme, hätte ich trotzdem wieder das Problem der Schwerkraft.» Morelli lacht, immer noch am Trapez eingehängt.
«Die schwierige Balance zwischen Publikumsbeschimpfung und Selbstbezichtigung»
Die Räume des Ateliers sind bedeckt mit Zeichnungen, Plakaten und anderen Erinnerungen an Morellis vierzig Jahre auf Bühnen, öffentlichen Plätzen oder auf dem Hochseil. Am Boden liegt eine blaue Matte, Morelli stellt sich davor. Mühelos rollt er sich darüber, steht wieder da und betont mit ernster Miene: «Wenn ich den Purzelbaum nicht mehr kann, bin ich tot.» Vor gut zwei Jahren, im Sommer 2016, durfte Morelli noch zum grossen Heimspiel laden. Für zwei Wochen bespielte er den provisorischen Kubus auf dem Waisenhausplatz. Gerne erinnert er sich daran: «Es war eine lange Show, sie dauerte etwa zweieinhalb Stunden. Damals gelang mir die schwierige Balance zwischen Publikumsbeschimpfung und Selbstbezichtigung ziemlich gut». Es ist eine beliebte Strategie des bodenständigen Entertainers. Er entblösst sich selbst (auch im wörtlichen Sinne) und nimmt dafür kein Blatt vor den Mund, wenn er sein Publikum verbal angreift. Und so bezeichnet er sich denn auch selbst: als Ankläger und Angeklagter in einem.
«Morelli wäre berühmt geworden, wenn ihm nicht Morelli im Weg gewesen wäre.»
«Was ich mir in diesen vierzig Jahren bewahren konnte, ist der Dilettantismus», sagt Morelli, «Dilettanten haben Lücken und Schwächen im Programm und Dilettanten können nie aufhören.» Und ja, erlebt habe er viel in all dieser Zeit, die mit dem Strassentheater «Zampanoo’s Variété» begann. Er tanzte in Thun in zwanzig Metern Höhe auf einem Seil über den Rathausplatz, brachte als Clown und Zauberer das Publikum zum Lachen, Staunen und Nachdenken. Dass sich sein Dilettantismus, wie er es nennt, durch all die Jahre zog, sei eine bewusste Entscheidung gewesen. Zwar habe er als Schauspieler oft unter Regie gearbeitet, doch sei ihm stets klar gewesen: «An meine Soloschiene lasse ich nie einen Regisseur ran.» Morelli, der Eigenwillige braucht seine Macken, seinen kreativen Freiraum. Morelli ist echt geblieben. Oder wie es einst ein Zuschauer ausdrückte: «Morelli wäre berühmt geworden, wenn ihm nicht Morelli im Weg gewesen wäre.»
«Ich habe die richtigen Entscheidungen getroffen»
Möglichkeiten hätte er viele gehabt, meint er: «Was ich an Angeboten abgelehnt habe, das passt auf keine Kuhhaut.» Nur um gleich zu betonen, dass er sich darauf nichts einbilden könne, man wisse ja nicht, ob er es denn auch gut gemacht hätte. Aber die Angebote gab es, Morelli zählt etwa den Zirkus Knie auf, einen Auftritt im Film Füürland 2, oder eine Rolle im Bestatter des SRF. Er hat sich aber seine Freiheiten bewahrt, ist nie dem Geld gefolgt. So wirkt es denn auch sehr ehrlich, wenn er an dem Tischchen in seinem einfachen Atelier sitzt und sagt: «Ich habe die richtigen Entscheidungen getroffen. Das ist nicht allen Menschen vergönnt.»
Nun lebt Morelli das erste Mal seit Abschluss seiner Lehre von einem fixen Einkommen. Er, der nie für das Geld spielte und dessen Auftritte meist auf Kollektenbasis liefen, ist jetzt Rentner und bezieht AHV. «Es huere Glück, dass ich in diesem Sozialstaat leben darf», meint Morelli, «ich bekomme zwar nicht viel, aber es sollte zum Leben reichen.» Seine Dienste als Schauspieler bietet er auch weiterhin an, nur mit dem Soloprogramm ist (zumindest vorerst, wie er ergänzt) Schluss. An Energie und Einsatz mangele es ihm aber auch im Pensionsalter nicht: «Wenn ich jetzt ein Schauspielangebot annehme, bin ich wieder mit dem Enthusiasmus des 30-jährigen Morelli dabei.»