«Dieses Argument will ich in linken Kreisen nicht mehr hören!»

von Noah Pilloud 30. März 2022

Eine Podiumsdiskussion im PROGR fragte nach dem besten Weg zu mehr Mitbestimmung. Die Antwort ist jedoch komplizierter.

Ein Viertel der ständigen Wohnbevölkerung wird in der Schweiz von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen. «Wenn dann von den 75%, die wählen und abstimmen dürfen, wenn es gut läuft 50% von dem Recht Gebrauch machen, darf man sich schon fragen: Ist das noch Repräsentativ?» Diese Frage stellte Mona-Lisa Kole vergangenen Freitag in der PROGR-Stube. Das Grüne Bündnis Bern hatte anlässlich der Aktionswoche gegen Rassismus der Stadt Bern zum Podium über die Frage «Wer ist in Demokratie mitgemeint?» geladen.

Neben Kole, die Co-Präsidentin des Safer Space «café révolution» ist, diskutierten Grüne-Nationalrätin Sibel Arslan und GB-Grossrat Hasim Sancar. Moderiert wurde der Anlass von WOZ-Co-Redaktionsleiter Kaspar Surber. Gleich zu Beginn erklärte dieser das Ziel des Gesprächs: Die Runde sollte den besten Weg zu mehr demokratischer Mitbestimmung ausfindig machen. Führt er über ein Wahl- und Stimmrecht für alle oder doch über eine erleichterte Einbürgerung? Oder gibt es einen dritten Weg?

Mehr Mut und Kampfwille

Das Wahl- und Stimmrecht für alle Einwohner*innen erscheint zunächst als das einfachste und effizienteste Mittel, um mehr demokratische Mitbestimmung zu erreichen. Wer hier geboren und aufgewachsen ist oder seit fünf Jahren in der Schweiz lebt, soll auch mitbestimmen und sich einbringen dürfen. Dies fordern und forderten parlamentarische Initiativen und Vorstösse auf kantonaler und Bundesebene immer wieder.

Wie Hasim Sancar allerdings aufzeigte, stossen diese einen langwierigen Prozess aus Gesetzesentwürfen, Vernehmlassungen und Anhörungen an. Dabei wandert das Geschäft mehrmals vom Parlament in die Regierung und zurück und am Ende steht eine Volksabstimmung.

Das Recht auf Mitbestimmung sollte nicht von der Staatsangehörigkeit abhängig sein.

Deshalb werde das Anliegen oft stark verwässert, ein Einwohner*innenstimmrecht sei noch nicht mehrheitsfähig, heisse es dann oft. «Das ist ein Argument, das ich aus linken Kreisen nicht mehr hören will!», verkündete Sibel Arslan am Freitag. Um in dieser Frage etwas zu erreichen, brauche es mehr Mut und Kampfwille.

Dass diese Auseinandersetzungen nicht auf Gemeindeebene geführt werden, hat einen einfachen juristischen Grund: Wer abstimmen und wählen darf, ist in den Verfassungen der Kantone und des Bundes geregelt. Selbst wenn ein Stimmrecht für alle Einwohner*innen in den Städten auf Zustimmung stösst, müssen diese den ganzen Kanton davon überzeugen.

Zu hohe Hürden

Wer in der Schweiz wählen und abstimmen wolle, müsse sich halt einbürgern lassen, lautet ein weiteres Argument von Gegner*innen des Einwohner*innenstimmrechts. Sollten Bestrebungen um mehr Mitbestimmung also an der Einbürgerungspolitik ansetzen?

Journal B unterstützen

Unabhängiger Journalismus kostet. Deshalb brauchen wir dich. Werde jetzt Mitglied oder spende.

«Die Mitbestimmung ist essenziell für eine Demokratie, das Recht darauf sollte daher nicht von der Staatsangehörigkeit abhängig sein», findet Mona Lisa Kole. Es gebe Menschen, die mitbestimmen aber sich dennoch nicht einbürgern lassen wollen. Etwa weil sie sonst das Anrecht auf ihre bisherige Staatsangehörigkeit verlieren würden.

Kaspar Surber und die Podiumsteilnehmer*innen Sibel Arslan, Mona Lisa Kole und Hasim Sancar (vlnr). (Foto: zvg)

Dennoch setzt sich auch Kole für eine erleichterte Einbürgerung ein. Denn diese bedeute für viele Schutz, etwa vor Ausschaffungen. «Es gibt Familien, die vermeiden es Sozialhilfe zu beziehen – obwohl sie es nötig hätten – um ihren Aufenthaltsstatus nicht zu gefährden», führt Sancar dazu aus.

Das Einbürgerungsverfahren, so waren sich auf dem Podium alle einig, muss erleichtert werden. Damit ist nicht nur der Weg vom C-Ausweis zum Schweizer Pass gemeint. Auch die Hürden vom F- zum B- und von jenem zum C-Ausweis seien viel zu hoch. «Wir müssen ständig belegen, welch vorbildhaften Einwohner*innen und Vorzeigeausländer*innen wir sind, obwohl wir genauso menschlich und fehlerbehaftet sind wie alle, die hier leben», erzählt Mona Lisa Kole. Sie selbst besitzt einen C-Ausweis.

Mit dem Einbürgerungsverfahren schaffen wir Ausländer*innen, keine Schweizer*innen.

Am pointiertesten beschrieb Sibel Arslan an jenem Abend das bürokratisch aufgeblähte Einbürgerungsverfahren: «Wir schaffen mit dem System keine Schweizer*innen, sondern Ausländer*innen.» Menschen, die seit Jahren hier wohnen, vielleicht sogar hier aufgewachsen sind, unterscheiden sich nur durch die Staatsbürgerschaft von ihren Freund*innen, Nachbar*innen und Arbeitskolleg*innen. Sie werden durch einen Verwaltungsakt erst zu Ausländer*innen gemacht.

Es gibt keinen Königsweg

Ein gesichertes Recht auf Einbürgerung ist also genau so wichtig, wie das Recht, unabhängig von der Staatsangehörigkeit, mitbestimmen zu dürfen. Doch auch die Einbürgerung stösst auf dieselben Widerstände in Parlamenten, Kommissionen und Regierungsgremien.

Das Fazit des Abends musste also lauten: «Es gibt keinen Königsweg.» Alle Möglichkeiten müssten parallel angegangen werden, meinte Sibel Arslan. Es brauche mehr Vielfalt in den Parlamenten und den Entscheidungsgremien. Überzeugungsarbeit müsse bei den Mitteparteien geleistet werden. «Direktbetroffene müssen den Kampf anführen, damit das Anliegen ein Gesicht bekommt», forderte Mona Lisa Kole.

Verfassungsmässig verankerte Rechte müssen das oberste Ziel bleiben.

Das klingt alles nach einem weiten Weg. Tatsächlich war auf dem Podium oft von Langatmigkeit, Durchhaltewillen und Hoffnung die Rede. Vergleiche zum Frauenstimmrecht wurden angestellt. Das kann auch entmutigend wirken. Wollen wir wirklich so lange auf die Demokratie warten? Wo bleibt das «Subito» der Achtzigerjahre? «In der Schweiz gibt es weniger Druck von der Strasse als in anderen europäischen Ländern», stellte denn auch eine Frau im Publikum fest.

Verfassungsmässig verankerte Rechte auf Einbürgerung und Mitbestimmung müssen das oberste Ziel bleiben, denn nur sie garantieren Schutz und Teilhabe. Doch stellt sich nach dieser Podiumsdiskussion die Frage, wie mehr Mitbestimmung bis dahin auf schnelle, unbürokratische und direkte Weise organisiert werden kann.