«Diese greifbare kollektive Impfwilligkeit!»

von Urs Frieden 15. April 2021

Stimmungsbericht aus dem Impfzentrum Wankdorf Bern, in drei Akten.

Szene 1

10vor10 ist wieder mal so etwas von parat. Auf zwei Ostschweizer Bahnhofplätzen warten live und vor Ort zwei Korrespondenten auf angekündigte Corona-Demos und damit verbundene Krawalle. «Es ist relativ ruhig hier», berichten die beiden übereinstimmend. «Relativ» ist in diesem Fall wirklich ziemlich relativ. Denn die Plätze im Hintergrund sind menschenleer. Ab und zu schlurft der eine oder andere Passant durchs Bild. Man hätte auch sagen können: volltote Hose. Aber dafür macht man keine teuren Schaltungen.

Szene 2

Maskierte Menschen strömen in Richtung Impfzentrum Wankdorf Bern, zu Fuss oder mit dem Auto. Vor der umfunktionierten Migros-Klubschule muss der Verkehr geregelt werden. Als 65-Jähriger und somit Angehöriger der Impfgruppe C habe ich online einen schnellen Termin erhalten. Auf dem Parkplatz kommen mir vertraute Halb-Gesichter entgegen, die den Piks schon hinter sich haben: «Geisch o ga impfe? Es isch im Fau aues super organisiert!»

Im Gebäude helfen uns Gurten-Festival-erprobte Broncos («Grüessech mitenang, hie düre bitte») und selbsterklärende Bodenmarkierungen. Nach dem Erledigen der Formalitäten, per Papier oder QR-Code auf dem Handy, geht’s speditiv in eine Koje. Dort setzen freundliche Menschen, die sich freiwillig gemeldet haben, die Spritze. In meinem Fall ist es Frau Z., eine pensionierte medizinische Praxisassistentin. Ich danke ihr dafür, dass sie sich hier engagiert. Sie entgegnet lachend, dass sie Glück hatte, berücksichtigt zu werden: «Es haben sich ja so viele gemeldet.»

Danach gehen die Geimpften, teilweise gestützt von Angehörigen, zum Ruheraum. Die Stimmung ist weiterhin gut bis aufgeräumt, auch dank den vielen freundlichen Helfer*innen, die alle paar Meter bereitstehen und über beruhigende Stimmen verfügen. Das Ganze aber ohne Altersheim-Attitüde mit überlauten Anweisungen. Es kommt mir eher vor wie bei der Startnummern-Abgabe vor dem GP. Einfach ohne Spaghettiessen, dafür alle mit einem Pfizerli im Oberarm.

Diese greifbare kollektive Impfwilligkeit – ein echtes Statement von uns alten Säcken. Nichts von Mimimi. Laut aktueller Sotomo-Umfrage sind nur sechs Prozent der Ü-65-Menschen hierzulande nicht oder eher nicht impfbereit. Und das spürt man hier im Wankdorf. Ich denke gerade, so etwas würde ich gerne mal im TV sehen. Da kommt wie gerufen ein Kamera-Team herein, in Begleitung von Gundekar Giebel, dem Sprecher der kantonalen Gesundheitsdirektion. Aha, jetzt kann der liebe Herr Giebel endlich der Nation zeigen, was seine Leute hier und an den anderen acht Standorten aufgebaut haben. Nachdem es ja immer geheissen hat, Bern habe den Impfstart verpennt.

Auf dem Nachhauseweg kommen mir vertraute Halb-Gesichter entgegen. Jetzt ich: «Geisch o ga impfe? Es isch aues super organisiert!»

Unter dem Strich

Liebe Medienschaffende, ich weiss, Corona hat auch uns stark getroffen. Privat und im Beruf: Kurzarbeit, Home office, Stellenkürzungen, der ungewohnte neue Fokus auf Gesundheitsthemen. Die Szenen 1 und 2, erlebt innerhalb von vier Tagen, habe ich mal zum Nachdenken einander gegenüber gestellt.

Was könnte das Learning sein? Zum Beispiel das: Wir sollten uns bemühen, in erster Linie über das zu berichten, was ist. Und nicht über das, was nicht ist oder vielleicht noch sein könnte. Oder relativ gesehen eher grad nicht ist. Und sollten wir nicht trotz News-Stress mehr Selbstreflexion betreiben: Wie gewichten wir die auf den ersten Blick langweilige Positivmeldung «Impfwillige Alte» gegenüber dem nächtlichen Spektakel «Protestierende Jugend»?

Übrigens: Das Kamerateam im Impfzentrum war, wie sich später herausstellt, für den «Kassensturz» unterwegs. Es ging um die Frage, ob man aus einer Sechserdose eine siebte Spritze ziehen darf. Ja, Konsument*innen-Kritik ist auch relativ wichtig.