Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der Zeitschrift Neue Wege am 22. Juni 2021.
Ob es ihr konsequenter, lebenslanger Auftritt gegen chemische, biologische und nukleare Waffen war, der mich so tief beeindruckte? Oder die beiläufige Notiz, dass sie 1917 überaus früh auf die Giftigkeit bleihaltigen Benzins verwiesen hatte? Und daneben ihr anachronistisch hippiehaft wirkendes Äusseres? Gertrud Woker ging mir nicht mehr aus dem Kopf, seit ich im Jubiläumsbuch der Neuen Wege (1) zum ersten Mal auf sie aufmerksam geworden war. Ich nahm mir damals vor, mehr über das Leben und Wirken dieser Friedensaktivistin und ersten Chemieprofessorin im deutschen Sprachraum in Erfahrung zu bringen – und kam nie dazu. Dennoch hat sich ihr Name in meinem Gedächtnis hartnäckig festgehakt. Auch dass sie im hohen Alter von 88 Jahren in eine Nervenheilanstalt überwiesen wurde, wo sie zwei Jahre später starb, blieb mir in Erinnerung. Verfolgungswahn wurde ihr attestiert. Die Neuen Wege seien immer auf ihrem Nachttisch gelegen, obwohl sie nur noch die grossen Buchstaben habe lesen können.
Im Januar 2021 feierte der Film von Fabian Chiquet und Matthias Affolter Die Pazifistin – Gertrud Woker: Eine vergessene Heldin an den Solothurner Filmtagen Premiere (2). Eingangs gesteht einer ihrer Grossneffen, dass Tante Trudi in der Familie als verrückte Person belächelt und abgetan worden sei. Dann steigt er auf den Estrich des Familienhauses am Thunersee, um in alten Dokumenten aus ihrem Nachlass zu stöbern.
Verfolgungswahn?
Das filmische Portrait zeigt in eindrücklicher Weise, dass Gertrud Wokers «Verfolgungswahn» in bitterer Realität gründete. Den Weg zur Matura erarbeitete sie im heimlichen, nächtlichen Selbststudium. Mit herausragenden Bestleistungen absolvierte Woker ihr Studium, promovierte und habilitierte. Trotz internationaler Anerkennung hielt sich Bern jedoch zurück. Die venia legendi erteilte ihr die Fakultät für die «Geschichte der Chemie und Physik», obwohl Woker selber forschen und nicht zurückliegende Erfolge männlicher Kollegen referieren wollte. Lohn und Beiträge an ihr Labor wurden ihr immer wieder verweigert. Erst 1933 erhielt sie die Beförderung zur ausserordentlichen Professorin. Der Film beleuchtet subtil weitere prägende Diskriminierungserfahrungen in ihrem Leben, die ihr unermüdliches Schaffen als Wissenschaftlerin, Frauenrechtlerin und Pazifistin hart kontrastieren.
Auch der Nachruf auf Gertrud Woker (3) in den Neuen Wegen hält fest, dass ihre Schriften totgeschwiegen und diffamiert wurden, und dies in stärkerem Mass als Arbeiten ihrer Kollegen, auch in der Antiatombewegung. 1928 sei Woker vom Verlag Ernst Reinhardt in München eingeladen worden, ihr Lebensbild zum Band Führende Frauen Europas beizutragen. «Das Buch war Ricarda Huch gewidmet, enthielt Namen wie Maria Waser, Selma Lagerlöf, Alexandra Kollontay und Käthe Kollwitz. 40 Jahre später wurde sie nicht mehr unter die ‹führenden Frauen Europas› eingereiht.»(4)
Der animierte Dokumentarfilm Die Pazifistin gibt collagenhaft Einblick in Wokers Friedensarbeit und macht gleichzeitig deutlich, wie viel Beachtenswertes aus dem Leben und Schaffen dieser Frau verborgen liegt. Ein paar wichtige Stationen ihres Engagements seien hier nachgezeichnet. (5)
Im April 1915 organisiert eine Gruppe niederländischer Frauenrechtlerinnen um Aletta Jacobs als Reaktion auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Den Haag den ersten Internationalen Frauenfriedenskongress. Der Friedenskongress, der anstelle eines in Berlin geplanten Kongresses des Weltbunds für Frauenstimmrecht (International Woman Suffrage Alliance, IWSA) stattfindet, führt zur Gründung der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF). In der Schweiz ruft Gertrud Woker zusammen mit Clara Ragaz und weiteren Frauen die Gruppe «Komitee für einen dauernden Frieden» ins Leben. Woker und Ragaz sind es auch, die 1919 den zweiten Internationalen Kongress der Frauenliga in Zürich organisieren.
1924 besucht Woker im Rahmen eines internationalen Chemikerkongresses das Edgewood-Arsenal, die amerikanische Produktionsstätte für chemische Kampfstoffe – ein Schlüsselerlebnis für ihre künftige Öffentlichkeitsarbeit.
«Als ich mich bei der Felddemonstration in Edgewood von den auflodernden weissen Flammen abwandte, die in der Ferne alles bedeckten, so weit das Auge reichte, als ich mich abwandte, von Grauen erfasst, im Gedanken an die Unglücklichen, die in einem praktischen Fall nun dort mit Feuer und Gift grausamer umgebracht würden als das schlimmste Ungeziefer, da fiel mein Blick auf einen wenige Schritte nur von der Stelle, wo ich stand, postierten Soldaten. Die Mitglieder der drei grossen Gesellschaften, für die die Demonstration veranstaltet war (die amerikanische chemische Gesellschaft, die amerikanische elektrochemische Gesellschaft und die Gesellschaft der organisch-chemischen Industriellen), hatten gerade mit einem Beifallssturm den tapferen Truppen ihr glänzendes Feuerwerk verdankt und erwarteten wohl, wenn auch nicht gerade eine Primadonnenverbeugung und verbindliches Lächeln, so doch einen Ausdruck der Freude über das von so illustren Leuten dem einfachen Tommi gespendete Lob. Ich habe nichts von einer solchen Freude bemerken können. Eher Unwillen war es, der sich auf den freimütigen, angelsächsischen Gesichtern der so Belobten malte, und der Soldat in meiner Nähe streifte die Umstehenden mit einem Blick so vorwurfsvoll, so todestraurig, wie ich es noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen habe. Und doch hatte ich schon einmal dieses Gemisch von Vorwurf und grenzenloser Traurigkeit im Auge einer gequälten Kreatur gesehen. Es war in einer physiologischen Vorlesung bei einem Vivisektionsversuch an einem Hund. Ich erschrak über die Parallele.»(6)
Nach ihrer Rückkehr aus den USA schreibt sie für die Neuen Wege den Beitrag Wissenschaft und wissenschaftlicher Krieg (7). Sie zeigt darin die konkreten Folgen von Giftgaseinsatz im Krieg auf, erörtert die Grundproblematik der Militarisierung der Wissenschaft und plädiert für einen «wirklichen Völkerbund», der den Krieg nicht humanisiere, sondern unmöglich mache. Im selben Jahr gründet sie auf dem Kongress der IFFF in Washington eine Kommission gegen den chemischen Krieg, die ein halbes Jahr später in «Kommission gegen die wissenschaftliche Kriegsführung» umbenannt wird. Woker wird bald weltweit als wissenschaftliche Autorität in Fragen der modernen Kriegsmethoden anerkannt.
Ihren in den Neuen Wegen publizierten Beitrag arbeitet sie kontinuierlich aus zur umfassenden Schrift «Der kommende Gift- und Brandkrieg und seine Auswirkungen gegenüber der Zivilbevölkerung», die ab 1932 in mehreren Auflagen erscheint. Woker analysiert darin die kurz- und langfristigen Auswirkungen von Giftgaswaffen auf die Zivilbevölkerung. Sie beleuchtet die Interessen der Rüstungsindustrie und übt Kritik am Lobbyismus. Ihr Werk kommt 1933 im nationalsozialistischen Deutschland auf die «Liste verbrennungswürdiger Bücher».
Woker arbeitet weiter für die Aufklärung und hält vor dem Völkerbund als Fachexpertin eine Rede, in der sie sich wiederum fundiert und dezidiert gegen den Einsatz von Giftgas ausspricht. In den 1950er Jahren folgt in den Neuen Wegen eine Reihe von Beiträgen Wokers, die sich mit den Gefahren des Atomzeitalters auseinandersetzen. Die Autorin demontiert verharmlosende Sichtweisen der aktuellen Atomexplosionsversuche und führt deren Folgen sowohl für die lokale Bevölkerung als auch die Weltbevölkerung plastisch vor Augen. Dabei referiert sie in allgemein verständlicher Sprache aktuelle Forschungsergebnisse. Ihre Beiträge münden stets in klare politische Forderungen, zum Beispiel gegen die «sogenannte friedliche Anwendung der Atomenergie», damit «die Achtung vor dem Leben den Überlegungen wirtschaftlicher Natur und den Profitinteressen der Industriebarone des Atomzeitalters übergeordnet werde»(8).
Ihre Friedensarbeit wird in der Schweiz nicht gern gesehen. Als sie 1959 in Lausanne einen europäischen Frauenkongress organisieren will, um die Gefahren der atomaren Aufrüstung zu diskutieren, verbietet der Bundesrat diese Konferenz. Woker schreibt: «Das Vertrauen, das die Völker, die in zwei Weltkriegen unsäglich gelitten haben, bisher der Schweiz als Friedensinsel entgegenbrachten, wird dauernd durch solche ungerechtfertigten, die Grundrechte infrage stellenden Verbote erschüttert.»(9)
«Feststellung der Tatsachen»
Über den stattdessen im italienischen Brunate stattfindenden Frauenkongress berichtet Woker: «Was dem Treffen, wie schon den früheren auf gleicher Grundlage aufgebauten Konferenzen, die charakteristische Note verlieh, war das völlige Fehlen jeder ideologischen oder klassenmässigen Diskriminierung. Frauen der verschiedensten europäischen Länder, solche mit Regierungen kommunistischer und solche kapitalistischer Prägung, Frauen von Ost und West, Frauen aller politischen Richtungen, Organisationen und Bewegungen, Frauen aller Bekenntnisse und philosophischen Auffassungen, Frauen der verschiedensten Berufszweige: Wissenschafterinnen aus den Gebieten der Physik, Biologie und Medizin, eine amtierende Pfarrerin (aus Holland), Lehrerinnen, Arbeiterinnen, Familienmütter und Hausfrauen, sie alle fanden sich zusammen in dem einen Ziel, ein furchtbares Geschick von der Menschheit abwenden zu helfen, das der Missbrauch der Atomenergie zu Kriegszwecken schon in allen seinen Vorbereitungen zwangsmässig in sich schliesst. Die Völker und ihre Regierungen müssen aufgerüttelt werden durch die einfache Feststellung der Tatsachen, die die ungeheuerliche, ständige Gefahr darstellen, in der sie sich in ihrer Gesamtheit befinden. Die Gefahr erkennen, heisst sie beseitigen durch den geweckten Lebenswillen der Völker selbst, über sie kann nicht hinweggeschritten werden durch einen zu ihrer Ausrottung stets bereiten Militarismus. Die breiten Massen der gefährdeten Bevölkerungen fordern den Frieden.»(10)
Gertrud Woker ist zu diesem Zeitpunkt bereits über 80 Jahre alt. 1962 nimmt sie am Moskauer Weltkongress für Frieden und Abrüstung teil, den sie als «ein Ereignis von historischer Bedeutung» einschätzt: «ein Forum der Völker, das dem Forum der Regierungsexperten, wie es in der Abrüstungskonferenz der 18 Staaten vorliegt, den Willen des Souveräns – der Erdbevölkerung selber – mit aller Deutlichkeit kundgetan hat: den Willen, das Leben auf unserem Planeten nicht weiterhin dem Zufall oder dem Gutdünken militärischer und politischer Hasardspieler und Kriegsprofiteure zu überlassen.»(11) Die Chemiewaffeneinsätze der USA im Vietnamkrieg lassen ihre schlimmsten Befürchtungen wahr werden. Mit Analysen und einer Resolution setzt sie dagegen. Und 1963 schreibt sie einen Brief an John F. Kennedy: «Herr Präsident, Mit grösster Sorge infolge der Wiederaufnahme der nuklearen Versuchsexplosionen bitten wir Sie inständigst, die nuklearen Testversuche […] mit sofortiger Wirkung zu verbieten. Es dünkt uns, dass die Völker […] schon reichlich genug durch Kriegsspiele, Versuchsexplosionen und dergleichen gelitten haben, als dass sie nochmals […] Leuten ausgeliefert werden sollten, die in sonderbaren Vorstellungen über Sicherheitsvorkehrungen für die sogenannte ‘freie Welt’ befangen sind. […] Mit der herzlichen Bitte, dass Sie, Herr Präsident, unseren Glauben an Ihre friedliche Staatskunst nicht zerstören möchten, zeichnet für das Komitee gegen die wissenschaftliche Kriegsführung der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit Prof. Dr. G. Woker» (13).
Von diesem Brief wird in der Familie gerne erzählt, wenn es um Tante Trudi geht, die «nicht ganz klar im Kopf» war. Der Film über Woker endet mit einer Passage, in der ihre drei Grossneffen im Garten des Elternhauses am Thunersee neben den Grabplatten, die seit langem an Wokers Vater, einen Kirchengeschichtsprofessor, und andere Verwandte erinnern, eine weitere Platte für ihre in Vergessenheit geratene und gering geschätzte Tante montieren.
1. Willy Spieler, Stefan Howald, Ruedi Brassel-Moser: Für die Freiheit des Wortes. Neue Wege durch ein Jahrhundert im Spiegel der Zeitschrift des religiösen Sozialismus. Zürich 2009.
2. solothurnerfilmtage.ch/de/solothurn-2021/programm/die-pazifistin
3. Millicent Furrer-Proud: Nachruf auf Gertrud Woker. In: Neue Wege 10/1968, S. 295–297.
4. Ebd. S. 297.
5. Zur weiteren Vertiefung: Gerit von Leitner: Wollen wir unsere Hände in Unschuld waschen? Gertrud Woker (1878–1968), Chemikerin, & Internationale Frauenliga, 1915–1968. Berlin 1998.
6. Gertrud Woker: Wissenschaft und wissenschaftlicher Krieg. In: Neue Wege 18/1925, S. 355–266 und S. 404–420, Zitat S. 416.
7. Siehe Fussnote 6.
8. Gertrud Woker: Sind Reaktoren eine Volksgefahr? In: Neue Wege 51/1957, S. 205–212, Zitat S. 211.
9. Gertrud Woker: Der Frauenkongress von Brunate. In: Neue Wege 53/1959, S. 205–207 und S. 240–242, Zitat S. 205.
10. Ebd. S. 206.
11. Gertrud Woker: Der Moskauer Weltkongress für Frieden und Abrüstung. In: Neue Wege 9/1962, S. 258–261. Zitat S. 261.
12. Quelle: Die Pazifistin. Film 2021.
13. Leitner, 411.
Der Film Die Pazifistin – Gertrud Woker: Eine vergessene Heldin läuft derzeit im Kino Rex.