«Die VBG erkennt Problemlagen frühzeitig»

von Luca Hubschmied 24. August 2017

In Bümpliz arbeiten Annkatrin Graber und Brigitte Schletti für die VBG. Im Gespräch erzählen sie von Chancen und Herausforderungen in Bern West.

Hinter einem kleinen Gartentor an der Bienenstrasse liegt der Stöcktreff, eine kleine Wohnung, früher die Hauswartwohnung des Stöckackerschulhauses. Jetzt spielen Kinder im einen Raum, daneben putzt eine ältere Dame das grosse Zimmer, in dem an diesem Mittwochmorgen der Kaffeetreff stattgefunden hat. Seit Mai betreiben die vbg und die reformierte Kirche in den hellen Räumlichkeiten den Stöcktreff. Annkatrin Grabers Büro liegt ebenfalls hier, heute hat sich auch Brigitte Schletti hier eingefunden, die ihr Büro im Bienzgut in Bümpliz hat. Die beiden Frauen sind Angestellte der VBG im Stadtteil Bern West und kennen das Quartier und seine Bewohnenden bestens. Wer die beiden trifft, kriegt schnell das Gefühl, mit zwei langjährigen Freundinnen zu sprechen.

Journal B: Sie begannen beide Ihre Anstellungen im September 2015. Ein Zufall?

Graber: Nein, die Anstellungen wurden im Rahmen der Erweiterung der Präsenz der VBG in Bern West realisiert.

Schletti: Es handelte sich dabei nicht nur um eine Aufstockung, sondern auch um eine Verlagerung der Ressourcen. Die Idee war, die VBG auch in Bümpliz zu implementieren, nachdem sie zuvor nur in Bethlehem vertreten war. Die Forderung nach Unterstützung durch die VBG kam auch von der Kirche. Sie war bisher alleine verantwortlich für die Quartierarbeit in Bümpliz. Dabei stellte sie fest, dass der steigende Bedarf mit ihren schwindenden Ressourcen nicht mehr zu befriedigen war.

Welcher Art ist dieser Bedarf?

Graber: Viele Menschen in Bern West werden durch Probleme des täglichen Lebens beansprucht. Wenn sie einen Migrationshintergrund haben sind beispielsweise Sprache, Einschulung und Betreuung der Kinder oft grosse Herausforderungen. Zudem sind viele Menschen aus dieser Bevölkerungsgruppe in Berufsfeldern tätig, die schlecht entlöhnt werden und lange Arbeitszeiten aufweisen. Dies kostet Energie. Zuhause warten dann Behördenbriefe oder Informationen der Schule, die vielleicht nicht beim ersten Lesen verständlich sind.

Was bedeutet das für Ihren Alltag, für die Gemeinwesenarbeit?

Graber: Wir initiieren auf diesen Bedarf hin Angebote, die diese Bevölkerungsgruppe in den täglichen Herausforderungen entlastet. So wurde etwa die Schreibstube realisiert, die von Freiwilligen betrieben wird. Zurzeit ist die VBG zusammen mit andern Kooperationspartnern daran, das Angebot «Info Bern West» zu lancieren: Ab 2018 sollen zwei Stellen für Information sowie Erst- und Kurzberatung für Migrantinnen und Migranten in ihrer Muttersprache in Bern West den Betrieb aufnehmen.

Schletti: Wenn sie neu in die Schweiz kommen, müssen sich viele Leute im neuen Umfeld erstmals orientieren. Administrative Abläufe, Behördenbriefe oder Informationen der Schule sind für einige oft schwer verständlich. Da sind Angebote nötig, bei denen die Leute die Gelegenheit haben, sich Deutschkenntnisse anzueignen sowie eine Vertrautheit mit dem hiesigen Alltag und dem Zusammenleben allgemein. Daraus kann später ein Engagement für die eigene Nachbarschaft, das eigene Lebensumfeld entstehen. Unsere Angebote, die wir immer in Kooperation mit anderen Organisationen und Freiwilligen entwickeln, sollen alltagsorientiert und niederschwellig sein. Wir fördern Aktivitäten, die den Austausch mit andern Quartierbewohnenden ermöglichen. Uns ist es wichtig, zu ermöglichen, dass die Quartierbewohnenden untereinander in Kontakt treten. Oft entstehen daraus Bekanntschaften oder gar Freundschaften und die Quartierbewohnenden unterstützen sich in der Folge gegenseitig.

Sie beide arbeiten in unterschiedlichen Verhältnissen. Frau Graber im Stöcktreff, einem offenen Quartiertreff, und Frau Schletti in einem Büro. Wie wirkt sich das aus?

Schletti: Mein bisheriges Büro ist in der Tat nicht niederschwellig, es liegt im ersten Stock über einer Bibliothek. Deshalb gehe ich oft direkt zu den Leuten ins Quartier. Im Kleefeld betreibt die reformierte Kirche in einer Baracke einen Treff, der ein vielseitiges Angebot an Aktivitäten aufweist: dort bin ich oft zu finden. Nun konnte die VBG in der Ladenstrasse des Kleefeld-Einkaufzentrums ein Lokal mieten. Da richte ich jetzt ein neues Quartierbüro ein, um näher bei den Leuten, am Puls des Quartiers zu sein. Ich bin aber auch in kleineren Quartieren wie der Weidmatt oder der Hohliebi aufsuchend tätig.

Graber: Mein Büro befindet sich im StöckTreff. Dieser wurde im Mai eröffnet. Zusammen mit der reformierten Kirchgemeinde Bümpliz betreibt die VBG nun diesen Begegnungsort im Stöckackerquartier. Die Nähe zur Schule ist dabei ein zusätzlicher Pluspunkt. Die Kirchgemeinde hat im Quartier bereits zuvor einen Quartiertreff betrieben. Von diesem sind nun Angebote wie das Nähatelier, der Kaffeeträff und weitere regelmässig stattfindende Begegnungsangebote in den neuen StöckTreff gezügelt. Nebst diesen Angeboten sind wir daran, im Rahmen des Projekts «Im Quartier zuhause» zusammen mit freiwillig engagierten Menschen aus dem Quartier und aus Bern West neue Angebote aufzubauen. So sollen Aktivitäten wie ein Kinderkino, Tee mit Tanz, Kochen an Sonntagen und ein Strick- und Häkeltreffen entstehen. Für mich ist es ein Vorteil, direkt vor Ort zu sein: So bin ich auf einfache Art erreichbar und kann auf die lokalen Geschehnisse reagieren und eingehen.

Brigitte Schletti, Sie haben das leerstehende Chleehus angesprochen. Was ist damit passiert?

Schletti: Das riesige Gemeinschaftszentrum steht leider leer, seit die Kirche aus finanziellen Gründen auszog. Die Grösse des Zentrums war eine finanzielle Belastung und entsprach nicht mehr dem Zeitgeist. Am schönsten wäre nun eine Zwischennutzung; an einem anderen Ort wäre das Gebäude schon längst besetzt worden. Hier geschieht das aber nicht. Wir sind besorgt, dass sich in diesem Quartier eine Abwärtsspirale entwickeln könnte.

Weshalb befürchten Sie das?

Schletti: Ich habe im letzten Jahr eine Sozialraumanalyse des Kleefeldquartiers durchgeführt und dabei festgehalten, dass wir dort vor besonderen Herausforderungen stehen. Das hängt etwa mit der Zusammensetzung der Anwohnenden und dem Wegzug vieler langjähriger einheimischer Bewohner zusammen. Wir versuchen nun, einen Quartierentwicklungsprozess auszulösen.

Wie kann ein solcher Prozess gelingen?

Schletti: Wichtig ist, dass die negative Entwicklung wahrgenommen und darauf reagiert wird. Das ist bereits auf verschiedenen Ebenen am geschehen. Wir arbeiten momentan an der Vernetzung mit verschiedenen Akteuren, zum Beispiel der Quartierkommission, der Kirchgemeinde, des DOKs, des TOJs und dem Koordinator Gemeinwesenarbeit der Stadt Bern. Daneben unterstütze ich mit der Quartierarbeiterin der reformierten Kirche BewohnerInnen bei der Gründung eines neuen Quartiervereins. Wir hoffen, dass daraus eine Kraft aus der Bevölkerung entsteht, die eine Quartierentwicklung «von unten nach oben», im Fachjargon «Bottom-up», auslöst.

Was wünschen Sie sich für die zukünftige Entwicklung Ihrer Arbeit in Bümpliz?

Graber: Mich freut, wenn durch unser Engagement Menschen zusammen kommen, die sonst nichts zu tun haben miteinander. Für die Zukunft wünsche ich mir ein Miteinander-Tätigsein für das Quartier, so dass es ein Ort wird oder bleibt, in dem gerne gewohnt wird und die Lebensqualität und Zufriedenheit für die verschiedensten Anwohnergruppen gross ist. Die VBG kann durch ihre Anwesenheit vor Ort in verschiedensten Situationen oder Konflikten vermitteln und unterstützen. So erkennt sie frühzeitig Problemlagen vor Ort und kann Behörden und andere zuständige Stellen dafür sensibilisieren. In diesem Sinne erfüllen wir eine Scharnierfunktion zwischen der Quartierbevölkerung und der Stadt, die den einzelnen Quartierbewohnenden zugutekommt.

Schletti: Mein Ziel ist es, die Menschen zu stärken, damit sie selbst etwas bewirken können. Auch wenn es am Anfang kleine Schritte sind, wie zum Beispiel bei einem Urban Gardening Projekt ein Beet zu bepflanzen, kann dadurch das Selbstvertrauen der Einzelnen und der Zusammenhalt unter den Leuten gestärkt werden, und es kann, um bei diesem Beispiel zu bleiben, die Leute dazu animieren, in einer Siedlung einen grösseren Garten anzulegen. Solche Prozesse können die Lebensqualität in einem Quartier bedeutend verbessern.