Armut in der Schweiz ist häufig nicht auf den ersten Blick sichtbar, und doch ist sie für viele Menschen eine Realität. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist die Armutsquote mit 7 Prozent im Jahre 2015 zwar immer noch relativ tief. Das Bundesamt für Statistik (BFS) geht dabei von einer absoluten Definition von Armut aus und verwendet die Höhe des sozialen Existenzminimums, das sich an den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) orientiert.
Erschreckend hohe Zahlen
Seit die Armutsquote vom Bundesamt für Statistik im Jahr 2007 jährlich erhoben wird, ist kein dramatischer Anstieg sichtbar. Die absoluten Zahlen sind trotzdem erschreckend hoch: 570’000 Personen waren im Jahr 2015 in der Schweiz von Armut betroffen. Zieht man die Zahlen für die Armutsgefährdung heran, sieht die Situation noch dramatischer aus. Jede siebte Person in der Schweiz war im Jahr 2016 von Armut bedroht und jede fünfte Person hatte Schwierigkeiten, eine unerwartete Ausgabe von 2500 Franken zu tätigen, teilte das Bundesamt für Statistik im November 2017 mit.
Viele Faktoren
Armut hat viele Facetten. Da ist zum einen das fehlende oder knappe Einkommen, das darüber bestimmt, wie und ob jemand in unserer konsumorientierten Gesellschaft teilhaben kann oder nicht. Zum anderen gibt es soziale Dimensionen von Armut, die nicht offensichtlich und schwer fassbar sind. So gibt es nicht die typischen Armutsbetroffenen. Je nach Lebenssituation und Gründen für die Armut erleben Betroffene ihre Situation anders.
Wertewandel mit Folgen
Wir haben exemplarisch zwei Armutsbetroffene befragt, die sich mit dem Thema politisch auseinandersetzen und aufgrund eigener Erfahrungen und ihres Engagements in einem Selbsthilfeprojekt zu Expertinnen und Experten geworden sind. Aus den Erzählungen von Avji Sirmoglu und Christoph Ditzler wird klar, dass sie einen Wertewandel wie das sogenannte Aktivierungsparadigma unmittelbar zu spüren bekommen und dies bei ihnen entsprechend Frustrationen hervorruft. Nicht die Armut werde bekämpft, sondern die Armutsbetroffenen, so ein bitteres Fazit.
Legitimationsdruck bei Sozialarbeitenden
Sozialarbeitende wie Barbara Kuoni, die in der Sozialhilfe arbeiten, erleben tagtäglich, mit wie wenig Verständnis die Gesellschaft auf Armutsbetroffene reagiert. Zwar ist es in der Schweiz immer noch möglich, Armutsbetroffenen ein Existenzminimum zu gewähren. Doch sind Sozialarbeitende vermehrt einem Legitimationsdruck ausgesetzt, der verlangt, dass sie ihr Handeln gegenüber Behörden oft genau begründen müssen. Die Fachleute möchten einerseits ihren Klientinnen und Klienten gerecht werden und müssen andererseits um einen ökonomischen und sparsamen Einsatz von öffentlichen Geldern besorgt sein. Gefragt sind in dieser Situation Fachpersonen, die trotz widrigen Umständen ihren Gestaltungsspielraum professionell zu nutzen wissen und Armutsbetroffene als autonome und selbstbestimmte Menschen betrachten.
Querschnittsthema im Quartier
Für Sozialarbeitende in der Gemeinwesenarbeit ist Armut ein Querschnittsthema. Sie befassen sich in ihrem Arbeitsalltag eher mit Strukturen und gesellschaftlichen Phänomenen. Sie richten ihr Augenmerk auf die Lebensqualität in einem Quartier und unterstützen Freiwillige, die sich in und für ihr Quartier engagieren wollen. Einen exemplarischen Einblick in dieses Arbeitsfeld erhalten wir durch Julia Rogger, die in einem Quartier in Bern West tätig ist. Sie macht die Erfahrung, dass Scham und materielle Entbehrungen eine Aktivierung von Armutsbetroffenen wesentlich erschwert (siehe Artikel im Quartierdossier).
Autorin: Regine Strub ist Sozialarbeiterin und arbeitet bei sozialinfo.ch