Die ständige Wanderung

von Christoph Reichenau 7. November 2019

«Homo migrans» heisst die eben eröffnete Ausstellung im Bernischen Historischen Museum. Sie zeigt Ein- und Auswanderung in der Schweiz über die lange Zeit, seit der Mensch aufrecht geht. Ein Lehrstück über Normalität.

«Niemand war schon immer hier.» Mit diesem Satz begann vor ein paar Jahren eine Ausstellung zur Schweizergeschichte im Nationalmuseum in Zürich. Migration ist seit langem und immer wieder akut ein aufgeladenes politisches Thema bei uns und in ganz Europa. Ihre Einschätzung spaltet die Bevölkerung und wird oft von Politiker*innen missbraucht. Dabei wird Migration als ein ausserordentliches Phänomen wahrgenommen bzw. dargestellt, als ein Problem. Historisch gesehen ist allerdings die «grosse Wanderung» (Hans Magnus Enzensberger) der Normalfall.

Diesem Normalfall widmet das Bernische Historische Museum (BHM) eine grosse Ausstellung, die mit dem Fokus auf der Schweiz zahlreiche Aspekte der Thematik beleuchtet und so unser Land in weltweite Zusammenhänge stellt. Ein Team von zehn Kuratorinnen und Kuratoren durchdrang die Frage und gestaltete mit Hilfe von Szenografen eine eindrückliche, erlebnisreiche und informative Schau.

Out of Africa

Die Wanderung beginnt vor 2 Millionen Jahren in Afrika. Der Mensch – wir alle – stammt von dort, erlernte in Afrika den aufrechten Gang, schuf erste Werkzeuge. Ein «Chopper», Faustkeil zur Bearbeitung von Holz und Stein, ist das Symbol dieser Epoche. Er stammt – wie vier Fünftel der zahlreichen Exponate – aus der reichhaltigen Sammlung des BHM, deren Umfang (rund 500‘000 Objekte) und Bedeutung aufblitzt.

Vom Rückblick auf die Entstehung des Menschen in Afrika führt ein kurzer Film spielerisch durch eine lange Zeit und leitet über zur eigentlichen Ausstellung. Sie setzt etwa vor 60‘000 Jahren ein und konzentriert sich auf die Schweiz. Nicht um den Sonderfall zu zelebrieren, sondern um hier bei uns die Schweiz als Beispiel für das Allgemeingültige zu nehmen.

13 Themenfelder

In der Mitte der 13 Themenfelder werden facts and figures präsentiert und die Besucher*innen mit ihrem eigenen Migrationsanteil konfrontiert. Sie haben hier auch die Gelegenheit, familiäre Migrationsgeschichten für andere zu notieren.

Von einem Themenfeld zum anderen wandelt man auf dicken farbigen und unterschiedlich gemusterten Teppichen und absolviert selber eine amüsante, ernste und immer lehrreiche Wanderung durch Zeit und Raum. Amüsant zum Beispiel, dass der 1848 neu gegründete Bundesstaat «Confoederatio helveticorum» genannt worden ist in Anlehnung an die Helvetier, die aus dem Gebiet von Rhein und Main eingewandert waren, in die wärmere Provence weiterziehen wollten, von Caesar im Jahr 58 vor Christus bei Bibracte geschlagen und zurückgeschickt wurden in ein wenig geliebtes Gebiet – das sich zwei Jahrtausende später auf sie bezog, um eine Gründungslegende zu fabulieren. Als Symbol dafür dient das schlichte ovale CH-Autoschild.

Zurück im Mittelalter wird die Bedeutung auch für die Gewinnung neuen Landwirtschaftslands herausgestrichen und das Europa überspannende Netzwerk der Klöster dargestellt, über das auch Wissen und Erfahrungen ausgetauscht wurde, Rohstoffe unter anderem für neue Anbaumethoden zur Ernährung der wachsenden Bevölkerung.

Arbeit, Liebe, Flucht

Der Gang durch die Geschichte führt zu den Wanderungen der Walser; zur Flucht der Hugenotten (Bern nahm damals 30‘000 wegen ihres Glaubens verfolgte Franzosen auf, verfolgte oder verbannte selbst indes die Täufer); zur Massenauswanderung aus unserem Land; zu den zwei Wellen der Einwanderung von Italiener*innen, deren Arbeitskraft und Fertigkeiten die Schweiz den Gotthard- und den Lötschbergtunnel verdankt – und die in den 1970er Jahren mit Argumenten bekämpft wurden, über die man heute nur den Kopf schütteln kann. Man erfährt anhand von Dokumenten, beispielhaften persönlichen Lebensgeschichten und vielen Objekten die Umstände der Migration und deren ungebrochene Aktualität. Wie früher sind auch heute die wichtigsten Migrationsgründe die Arbeitssuche, die Liebe und die politische Verfolgung.

Beachtung erhält unter anderem die Fussball-Nati der Schweiz, die halb aus nicht hier geborenen Spielern besteht, die allesamt insofern Arbeitsmigranten sind als sie in ausländischen Klubs ihr Geld verdienen. Und Licht fällt auch auf die Söldner, deren auswärtiger Kriegsdienst nicht anderes war als Arbeit für fremde Herren.

Wir lernen durch die sorgfältig recherchierte, dokumentierte und gestaltete Ausstellung zwei wichtige Dinge. Einmal: Der Migrant, die Migrantin ist «der Wanderer, der heute kommt und morgen bleibt» (Georg Simmel). Und der mit der mitgebrachten Kultur unsere scheinbar festgefügten Bräuche und Gewohnheiten mitprägt und oft bereichert. Und: Die Schweiz ist auch jetzt sowohl ein Einwanderungs-, als auch ein Auswanderungsland, wir sind Teil der weltweiten Flüsse, Ströme von Menschen.

Draussen nimmt man das Vertraute anders wahr, weniger eigen, auch ein bisschen fremd. Man spürt, dass sich die Zusammensetzung der Menschen, welche «die Schweiz» ausmachen, jeden Tag verändert, fast unmerklich zuerst und irgendwann in bestimmender Weise. Und das ist weder einfach gut, noch einfach schlecht, sondern es war und bleibt normal.

 

Bis 28. Juni 2010. Führungen und vielfältiges Begleitprogramm.  www.bhm.ch/homomigrans