Die Stadt Bern tickt rot-grün

von Willi Egloff 1. Oktober 2020

Die Abstimmungsergebnisse in der Stadt Bern waren mehr als eindeutig. Alle städtischen Vorlagen und diejenigen auf Bundesebene wurden mit Mehrheiten von mindestens 70% angenommen oder verworfen. In allen Punkten folgten die Stimmberechtigten den Parolen der rot-grünen Parteien.

84% der Stimmberechtigten in der Stadt Bern lehnten die Begrenzungsinitiative der SVP ab. Es war dies der höchste Anteil an Nein-Stimmen in sämtlichen Gemeinden der Schweiz. Mit mehr als 88% wurde die Transparenzinitiative angenommen, welche die Offenlegung der Finanzierung von politischen Parteien und Kampagnen verlangt. Diese Ergebnisse sind nicht zuletzt im Hinblick auf die im November anstehenden Gemeindewahlen interessant.

Schlappen für FDP und SVP

Ernüchternd muss für die rechtsbürgerlichen Parteien insbesondere das Resultat der Transparenzinitiative sein. SVP und FDP lehnten diese Initiative geschlossen ab. Mit ihrem Widerstand überzeugten sie gerade einmal knapp 12% der Stimmberechtigten. Bei den Nationalratswahlen 2019 brachten es diese beiden Parteien in der Stadt Bern zusammen immerhin noch auf 17% der Stimmen. Das im Verhältnis dazu miserable Ergebnis lässt nur zwei Erklärungen zu: Entweder haben FDP und SVP an der Meinung ihrer eigenen Wählerinnen und Wähler vorbei politisiert, oder ihre Wählerbasis ist im laufenden Jahr weiter geschrumpft. Oder beides.

Ein ähnliches Bild ergibt sich aus dem stadtbernischen Verdikt über die Begrenzungsinitiative. Zwar liegen die insgesamt 16% der Ja-Stimmen über der Stimmkraft der SVP, aber bei der Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative im Jahre 2014 hatte sie in der Stadt Bern immerhin noch 27% Ja-Stimmen erreichen können, bei der Durchsetzungsinitiative zwei Jahre später noch 17%. Nun aber liegt der Ja-Stimmenanteil selbst in Bümpliz, wo diese Partei am besten verankert ist, mit 34% noch deutlich unter dem gesamtschweizerischen Durchschnitt. Die Abgrenzungspolitik scheint in der Stadt Bern auf immer weniger Zustimmung zu stossen.

Gute Noten für Rot-Grün

Aber auch die übrigen Vorlagen erbrachten teilweise erstaunliche Resultate. So warben bei der Vorlage über die Erhöhung des Kinderabzuges in der Bundessteuer, beim Jagdgesetz und beim Bundesbeschluss über die Beschaffung von Kampfflugzeugen auch diverse Mitteparteien für ein Ja. Trotzdem erreichte keine der Vorlagen in der Stadt Bern einen Ja-Stimmenanteil von über 30%. Die hiesigen Stimmberechtigten lehnten die Steuervorlage mit 73%, das Jagdgesetz mit 71% und die Beschaffung von Kampfflugzeugen mit 70% der Stimmen ab.

Obwohl von den Ergebnissen in Sachabstimmungen nicht ohne weiteres auf die Aussichten bei Wahlen geschlossen werden kann, zeigen diese Zahlen doch eines: Die Politik der rot-grünen Parteien findet in der Stimmbevölkerung der Stadt Bern sehr grossen Rückhalt. 70-80% der Stimmberechtigten unterstützen heute die grossen Linien dieser Politik. Offenbar haben der Gemeinderat und der Stadtrat, entgegen der Meinung der bürgerlichen Parteien und der Lokalredaktionen in den beiden ebenso bürgerlichen Tageszeitungen, aus der Sicht der in der Stadt lebenden Schweizer Bürgerinnen und Bürger eine ziemlich gute Politik gemacht.

Korrekte Zusammensetzung des Gemeinderates

Das bedeutet gleichzeitig, dass der gegenwärtige Gemeinderat die politischen Mehrheitsverhältnisse in der Stadt korrekt wiederspiegelt. Mit vier von fünf Sitzen ist das rot-grüne Lager keineswegs übervertreten. Vielmehr entspräche weder ein Sitz für SVP oder FDP noch ein zweiter Sitz für das Mitte-Lager der realen Stärke dieser Parteien. Der vor allem von der Zeitung „Der Bund“ über Monate hinweg geforderte zusätzliche Sitz für die bürgerlichen Parteien lässt sich aufgrund der Mehrheitsverhältnisse, wie sie am letzten Wochenende zum Ausdruck gekommen sind, nicht rechtfertigen.

Die rot-grünen Parteien haben vielmehr sehr gute Chancen, ihre aktuell vier Sitze im Gemeinderat auch bei den kommenden Wahlen vom 29. November 2020 zu verteidigen. Bei den Gemeindewahlen 2016 genügten ihnen 61,8% der Stimmen, um diese vier Sitze zu erobern. Ihre aktuelle Stimmkraft liegt deutlich über diesem Wert. Wenn es ihnen gelingt, diese Stimmkraft im November auch nur annähernd auszuschöpfen, sind ihnen diese vier Sitze so gut wie sicher.

Voraussetzung ist allerdings, dass die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger auch am 29. November wieder in so grosser Zahl an der Wahl teilnehmen wie sie am vergangenen Wochenende abgestimmt haben. 65,5% waren es, die sich zu den insgesamt 4 städtischen und den 5 Bundesvorlagen geäussert hatten. Liegt die Stimmbeteiligung in November wiederum so hoch, so wird auch der Gemeinderat der Stadt Bern aller Wahrscheinlichkeit nach weitere vier Jahre rot-grün ticken.