Die Schütz, die Partizipation und die Verpflichtung des Freiraums

von Luca Hubschmied 5. Oktober 2021

In sieben Jahren soll die Umgestaltung der Schützenmatte beginnen – doch was geschieht bis dahin? Und wer darf in der neuen Partizipationsrunde mitreden? Wir blicken mit Menschen, die den Platz kennen, auf die jüngere Vergangenheit und die Zukunft der Schütz.

Auf der Berner Schützenmatte scheint mittlerweile jeder Sommer ein heisser zu sein. Sind es nicht Gewalt und Kriminalität, die die Wahrnehmung des städtischen Platzes dominieren, so sind es politische Diskussionen und Planungskonzepte. Der jüngste Föhnsturm, der diesen August aus dem Blätterwald über den versiegelten Platz blies, lautete auf den schönen Namen Partizipation.

Jenes Wort des Anstosses verwendete die Stadt Bern in ihrer Medienmitteilung vom 9. August 2021, als sie ankündete, Ideen für die Umgestaltung des Platzes zu suchen. Die Reaktionen fielen kritisch aus: Neue Ideen für die Schütz? Schon wieder? Von einer endlosen Partizipationsschlaufe war die Rede und von dem «zu Tode partizipieren». Die Berner Zeitung fasste die Aufregung, welche die lokalpolitischen Kreise erfasste, zusammen. Doch die Polemik, die die GLP-Stadträtin Marianne Schild zur Aussage hinreissen liess, ob Parkplatz und Busterminal nicht vielleicht doch die beste Lösung seien, war gesucht. Denn wirklich neue Ideen für die Umgestaltung des Platzes sind zum jetzigen Zeitpunkt nicht gross erwünscht. Immerhin wurde bereits 2016 ein Nutzungs- und Entwicklungskonzept (NEK) für die Schütz erarbeitet. Auf der Basis dieses Konzepts soll nun bis Ende 2022 die Vorstudie für die definitive Umgestaltung des Platzes erarbeitet werden. Und diese ist im Gegensatz zum NEK nicht mehr ergebnisoffen. Der Prozess soll aber – und hier fällt das Reizwort – weiterhin partizipativ erfolgen. So ist auch das Begleitgremium, welches bei der Erarbeitung des NEK mithalf, in reduzierter Form weiterhin involviert.

Baustart erst 2028

Hierbei den Überblick zu verlieren, ist verzeihbar. Und so schuf «Der Bund» kürzlich Abhilfe und skizzierte eine Chronik des Platzes (Anm. d. Red.: Im Eintrag zum August 2019 sollte das Projekt «Team Kidane» heissen). Bei den immens langen Zeiträumen, die die Planung auf der Schützenmatte bisher in Anspruch nahm, dürften sich für viele Beteiligte und Aussenstehende die Prozesse eher nach Stillstand denn als Fortschritt anfühlen. Und der Blick in die Zukunft muss weit schweifen, bis ein Ende in Sicht ist. Die Stadt Bern schrieb ursprünglich von einem Baustart «frühestens 2026». Nun werde aber nicht vor 2028 gebaut – dies bestätigte das Tiefbauamt gegenüber Journal B.

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Denn bevor die Schützenmatte umgestaltet wird, muss der Platz für ein anderes Vorhaben herhalten: Im Rahmen der Bauarbeiten rund um das Projekt Zukunft Bahnhof Bern (ZBB) soll die Schütz teilweise als Bauinstallationsplatz verwendet werden. Allerdings dient dieser nicht der SBB, sondern der Stadt Bern für die städtischen Verkehrsmassnahmen im Rahmen von ZBB rund um die Schützenmatte. Zudem soll die geplante Baustelle nicht, wie ursprünglich von der Berner Zeitung berichtet, auf dem heute nutzbaren Teil des Platzes entstehen. «Die Platzfläche zur Nutzung bleibt bestehen, und auf einem Teil der heutigen Parkplatzfläche soll der Bauinstallationsplatz eingerichtet werden», schreibt Nadine Heller, Bereichsleiterin Gestaltung + Nutzung des Tiefbauamtes.

Ein Teil der Parkplätze bleibt – ein Teil wird zum Bauinstallationsplatz (Foto: Luca Hubschmied)

 

Bewegungs- und Sportangebote auf dem Platz

Seit dem Ende der Zwischennutzung durch den Verein Platzkultur im Frühling 2020 wird der Raum auf der Schützenmatte nur noch punktuell und unregelmässig bespielt. Im Vordergrund stehen Sport- und Freizeitnutzungen. Dies wird auch bis zur Umgestaltung des Platzes so bleiben, erklärt Nadine Heller: «Der Platz wird mit den temporären Ausstattungselementen wie auch Bewegungs- und Sportangeboten flexibel gestaltet sein, damit auf Nutzungsbedürfnisse flexibel reagiert werden kann.»

Zuständig für Projekte und Veranstaltungen auf der Schützenmatte sind nach wie vor Christoph Ris und Kevin Liechti – nun nicht mehr über ihren Verein Platzkultur, sondern als Stadtangestellte. Sie teilen sich die Stelle «Koordination und Bewartung Schützenmatte», die in der Präsidialdirektion von Alec von Graffenried geschaffen wurde. Laut Angaben der Stadt sei geplant, die ursprünglich auf Ende Jahr befristete Stelle weiterzuführen.

Die Familie der Schütz

Nebst städtischen Angestellten und Politiker*innen finden sich aber auch viele Menschen, die ohne Leistungsauftrag einen Teil ihrer Geschichte mit der Schützenmatte verwoben haben. An einem Dienstagabend im August treffen sich vier Personen an einem kleinen Tisch vor dem O bolles in Bern. Der Verkehr braust vorbei, auf der anderen Seite der Strasse liegt die Schützenmatte im Dämmerlicht. Auf einem der Stühle sitzt Karim (Name geändert). Er sei oft auf der Schützenmatte anzutreffen, wie er selbst sagt: «Ursprünglich bin ich auf den Platz gekommen, um Basketball zu spielen.» Er, der stets ein breites Grinsen im Gesicht trägt, erklärt, so habe er Dragana kennengelernt: «Wir haben zusammen Körbe geworfen und den Platz geputzt. So begegnete ich weiteren Menschen, die hier auf dem Platz engagiert sind oder waren. Wir schauen zueinander, für mich ist das wie eine Familie hier.»

Dragana Draca kennt die Schützenmatte so gut wie wenige andere. Im Sommer 2018 arbeitete sie als Platzwartin für das Neustadt-lab und 2019 für PlatzKultur. Im Frühling 2019 gründete sie in einem Silo von Holepole das Projekt «Integrierbar», wo sie mit den «Menschen vom Platz» ihre Lebenssituationen besprochen und sie in verschiedenen Angelegenheiten unterstützt hat. Dieses Projekt führte sie bis in den Herbst 2019, als das Team Kidane den Auftrag für interkulturelle Übersetzungsarbeit bekam. Die Erfahrungen aus der Integrierbar,  gebündelt mit dem Engagement von einzelnen Personen aus der damaligen Schütz-Kulturgruppe, den Menschen aus dem Knospe Kollektiv und mit neu dazugestossenen Einzelpersonen waren die Grundlage für die Enstehung des Vereins Medina im Oktober 2019. Der Verein dient mit seinem Container auf der Schütz als Anlaufstelle und leistet auf dem Platz Soziale Arbeit
(Journal B berichtete).

(Foto: Luca Hubschmied)

 

Vom Neustadt-lab zu Platzkultur

«Nach Ende des Neustadt-labs erhielt der Verein Platzkultur 2018 den Zuschlag für die ganzjährige Zwischennutzung», erinnert sich Dragana. Und Platzkultur habe zu grossen Teilen das Programm des Neustadt-labs übernommen. Dragana arbeitete weiterhin auf der Schütz – als Platzwartin der neuen Zwischennutzung – bis die Stelle gestrichen wurde. Es folgte ein turbulenter Sommer 2019. Die Schütz im Fokus der Öffentlichkeit, Berichte über bandenmässige Überfälle häuften sich. Als interkulturelles Vermittlungsteam setzt die Stadt das «Team Kidane» ein. Die Mitglieder sollen Konflikte lösen und Spannungen abbauen. Ihr Erfolg ist begrenzt. «Ich habe noch Kontakt mit den Menschen von Kidane», erzählt Dragana, «nichts gegen sie, aber dieser Platz hat eine kontextbezogene Geschichte.» Ohne diese zu kennen, sei wenig auszurichten, fährt sie fort: «Pinto kennt die Umstände, kommt aber nicht so oft hierher, sie lassen sich selten blicken.»

Als nächstes stellt sich Sabine Brunner vor, die neben Dragana vor einem Glas Wein sitzt. Sie arbeitet seit 2016 im O bolles und kennt den Kontext der Schützenmatte aus verschiedenen Blickwinkeln. Gemeinsam mit dem benachbarten Club Kapitel stellte das O bolles 2016 im Rahmen des Neustadt-labs eine Bar auf der Schützenmatte auf. Auch in den beiden darauffolgenden Jahren engagierte sich Sabine im Verein Neustadt, gemeinsam mit dem Gründer Jürg Lüdi. «Im Sommer 2017 erlebte das Neustadt-lab einen Taucher», erinnert sich Sabine. Die Stadt stellte in jenem Jahr die Finanzierung des Labors ein. Die Folge: «Die Aktivitäten und Angebote auf dem Platz mussten sich selbst finanzieren, dies führte zu einer stärker kommerzialisierten Nutzung. Vielen Leuten gefiel das nicht», so Sabine. Auch die Stadt erkannte dies und sprach im Jahr darauf wieder einen Beitrag von 80 000 Franken für die zweimonatige Nutzung.

Verstimmung unter den Beteiligten

Durch die dauerhafte Aufhebung eines Grossteils der Parkplätze auf der Schützenmatte wurde anschliessend der Weg frei für eine ganzjährige Nutzung des Platzes. Im Juni 2018 schrieb die Stadt die mehrjährige Zwischennutzung aus. «Wir rechneten uns mit dem Verein Neustadt Chancen aus», sagt Sabine. Berücksichtigt wurde stattdessen der neugegründete Verein Platzkultur, hinter dem Christoph Ris und Kevin Liechti, zwei langjährige Reitschüler, standen. Der Entscheid sorgte auch für Missmut, der bis heute noch ein bisschen nachglüht. «Ja, das zu akzeptieren, war in jenem Moment schwierig», sagt Sabine, «viele verschiedene Leute hatten zuvor viel Vorarbeit geleistet.»

«Anschliessend war ich lange in der Rolle der beobachtenden Nachbarin», meint Sabine und blickt sinnbildlich Richtung Schützenmatte. Geändert hat sich dies im Sommer 2020, als eine Gruppe engagierter Personen die Schützenmatte im Rahmen einer Aktionswoche belebt und zur Diskussion einlädt. Sabine war Teil davon und ist seither wieder oft auf dem Platz anzutreffen, sei es bei Veranstaltungen mit Medina oder zusammen mit Dragana.

Ein nicht beachteter Raum

Die Reihe ist nun an Pit, dem Vierten in der Runde. Er zeigt schräg über die Strasse Richtung Eisenbahnviadukt und erzählt: «Mit 15 Jahren war ich regelmässig in der Reitschule anzutreffen. Die Schütz empfand ich damals schon als seltsamen Ort. Er gehörte nicht zum Vorplatz, war aber Teil dieses Freiraums, den ich hier antraf.» Der Platz, damals noch mit Autos vollgestellt, sei schon immer ein Politikum gewesen, fährt er fort. Lange hätte die Stadt ihn aber nicht aktiv gesehen, erst in der jüngeren Vergangenheit sei er quasi entdeckt worden. Vor zwei Jahren stiess Pit zu Medina. Er kannte viele Mitglieder des Kollektivs schon von früher. Andere lernte er kennen. «Wie Karim gesagt hat: Hier sind viele Freundschaften entstanden.» Mit Medina leistet er Einzelfallhilfe, unterstützt Menschen auf dem Platz mit ihren schwierigen Geschichten.

Dragana ist nach wie vor regelmässig auf dem Platz zwischen Eisenbahnviadukt und Bollwerk anzutreffen. Zum Medinakollektiv zählt sie sich aktuell nicht mehr. Dies aufgrund mangelnder Ressourcen oder unterschiedlichem Bedarf an Strukturen, wie sie erzählt.  Und Pit betont: «Die Soziale Arbeit, die Medina hier leistet, bleibt wichtig.»

Wer schützt den Freiraum?

Dragana stellt ihr Glas auf den Tisch und spricht lauter, als sie sagt: «Alle reden von Freiraum. Aber hier ist er und wir haben ihn nicht geschützt.» Sabine stimmt zu: «Was es bräuchte, wäre eine fixe Gruppe, die auf dem Platz präsent ist. Die sich zwischen 1 und 5 Uhr um Anliegen und Probleme kümmert. Denn Medina kann auch nicht alles abdecken.» Für sie selbst stelle sich immer wieder die Frage, wenn sie Feierabend habe und aus dem O bolles laufe: «Gehe ich noch rüber auf die Schütz? Oder doch endlich nach Hause?»

Abgestürzt und gestrandet auf dem harten Asphalt – ein Mahnmal an die Einsprachen, die die Zwischennutzung durch Platzkultur erschwert hatten. (Foto: Luca Hubschmied)

 

Von der Schützenmatte dringt jetzt Musik zu uns. Eine kleine Bühne steht am Rand – die «Sommerbühne» – ein Teil der aktuellen Nutzung des Platzes. Im April 2020 hatten der Verein Platzkultur und die Stadt Bern die auf drei Jahre angelegte Zwischennutzung nach der Hälfte der Zeit beendet. Die Stadt nannte die Blockierung des erforderlichen Baugesuchs durch Einsprachen als Grund. Nebst der Lärmproblematik dürften aber auch gewalttätige Vorfälle auf dem Platz die Arbeit erschwert haben.

«Dieser Ort hat ein grosses Potential, die Schütz ist ein Platz der Durchmischung», sagt Pit. Er habe viele kreative und aufgeweckte Leute hier getroffen. Ohne Geld und Möglichkeiten könnten sie sich aber nicht ausleben. «Früher existierte in diesem Perimeter eine andere Kultur. Gewisse Werte gingen verloren», erinnert sich Pit, «die Reitschule hat es leider verpasst, über den Vorplatz hinaus zu denken.» «Von den Bäumen hier am Bollwerk bis zur Eisenbahnbrücke liegt ein grosser Spielraum», meint Dragana und stellt die Frage: «wollen wir uns den nehmen und beschützen oder sind wir unfähig dazu?»

Sieben Jahre Basisarbeit

Wer dieses «Wir» ist, lässt sie offen. Wir, das könnten die Menschen sein, die jetzt regelmässig auf dem Platz verkehren: die Reitschüler*innen, die Besucher*innen, die die Schütz traversieren, das Kollektiv von Medina, die Skater und Skaterinnen in der Bowl, die Menschen aus Berns fragmentierter linksalternativer Szene, das Publikum des Konzerts auf der Sommerbühne, Dragana, Pit, Sabine, Karim. Möglichkeiten gibt es viele. Die entscheidende Frage sei, so Dragana: «Haben wir genug Kraft, um was zu machen?» Denn Kraft brauche es, am Wochenende und spätnachts hier zu sein, Diebstähle zu verhindern, Menschen aufzufangen, Angebote zu schaffen. «Es gibt die Möglichkeit, hier solidarisch zusammenzustehen», erklärt Pit ruhig und doch bestimmt, «wenn genug Leute dazu schauen, wird die Schütz ein Platz sein auf dem viel weniger gestohlen wird und auf dem sich die Menschen ausleben können.»

Bis die Umgestaltung des Platzes beginnt, werden noch sieben Jahre vergehen. Jahre, in denen auf der Schütz wiederum viel Arbeit im Kleinen geleistet wird. So ist Sabine überzeugt: «Diese weiteren sieben Jahre Basisarbeit werden dann wieder vergessen sein. Diese Arbeit wird kaum gewertet, das ist frustrierend.» Bereits bei der Zwischennutzungsvergabe 2018 konnten die vorherigen Erfahrungen nicht weiterentwickelt werden, meint Sabine. Sie befürchte, fährt sie fort, dass in sieben Jahren bei der Umgestaltung des  Platzes erneut etwas raufgepflanzt werden könnte, das der Vorgeschichte nicht Rechnung trage.  Auf die Zukunft angesprochen zuckt Dragana zuerst mit den Schultern und meint dann doch: «Etwas ist klar für mich: Bevor hier eine Ausgangsmeile hinkommt, soll lieber wieder ein Parkplatz hin.»

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