Die Schütz denen, die sie beleben

von Rahel Schaad 20. Oktober 2020

Seit Sonntagnachmittag zieren 64 grosse Portraitfotos in Schwarzweiss Boden und Wände der Schützenmatte. Mit der Streetvernissage «Let’s turn Schützenmatte Inside out» wollen die Machenden Raum einnehmen und auf Anliegen aufmerksam machen.

Die Gesichter auf den Fotos vereint eines: Ihre gemeinsame Vision einer Schützenmatte als solidarischer Raum, auf dem alle Menschen Platz haben und mitbestimmen können. Ein Ort gelebter Demokratie, ohne Ausschluss aufgrund Aufenthalts- oder sozialem Status, ohne Racial Profiling und anderer Diskriminierungsformen und ohne kommerzielle Zwänge. Für einige von ihnen ist die Schützenmatte Treffpunkt, Freizeitort, für manche ein Auffangbecken, für die einen Arbeitsort und für andere gar eine Art Zuhause. Das «Café CosmoPolis» hat sie alle im Rahmen der «Aktionswoche Schützkonzept», die vom 2. bis 9. Juli 2020 auf der Schützenmatte stattfand (Journal B berichtete), fotografiert. Daraus entstand nun eine Strassenvernissage, die Teil des globalen Kunstprojekts «Inside out» ist.

 


Menschenorte

2002 hat der französische Fotograf mit dem Pseudonym JR zu einem weltweiten partizipativen Kunstprojekt aufgerufen. Das Konzept des Projektes ist es, allen Menschen die Möglichkeit zu geben, mit ihrem Portrait im öffentlichen Raum dafür einzustehen, was ihnen wichtig ist. Mit den Gesichtern sollen die Menschen hinter den vereinnahmten Orten sichtbar gemacht und ihre Anliegen zum Ausdruck gebracht werden. Dadurch werde ein Ort von innen gegen aussen gestülpt – «turn the world inside out» – so die Idee von JR. Seit dem Projektstart vor acht Jahren haben bereits über 400’000 Personen in mehr als 140 Ländern bei diesem Projekt mitgemacht.

Nach den Aufnahmen im Juli wurden die Fotos also nach New York gesendet, dort von der Koordinationsstelle «Inside out» gross ausgedruckt und dann wieder zurück nach Bern geschickt, wo sie schliesslich auf der Schützenmatte angekleistert wurden. Die Macher*innen kommen aus verschiedenen Initiativen wie «Wir alle sind Bern», «Café CosmoPolis», «Berner Rassismus Stammtisch», «Medina» und dem «NEUstadt-lab».

 

«Auf der Schütz verkehren viele Menschen, für die es in der Gesellschaft kaum Platz gibt. Hier auf der Schütz sollen sie einen haben», findet Mardoché Kabengele vom Berner Rassismus Stammtisch. «Die Schütz ist ein öffentlicher Ort, der Menschen angezogen hat, die sonst kaum Ausweichmöglichkeiten haben. Dieser Platz gehört ihnen», so Kabengele. Auch Ale ist am Sonntagnachmittag auf den Platz gekommen, um bei der Aktion mitzuhelfen. Ein Teil der Plakate hat Ale beim letzten Besuch auf der Schützenmatte bereits gesehen und im Anschluss daran im Internet Informationen zur Aktion gesucht – und sich zum Mitmachen entschlossen. «Ich finde es wichtig, dass Menschen, die hier öfters sind, hier auch ein Daheim haben, das sie mitgestalten können und dass sie hier mehr Platz erhalten als sie in der Gesellschaft bekommen», so Ale. Dies soll durch die Vernissage symbolisch aufgezeigt werden.

Umfunktionierung im Stillstand

Im August 2018 übergaben Gemeinderätin Ursula Wyss und Stadtpräsident Alec von Graffenried die Schützenmatte symbolisch der Berner Bevölkerung. Zwei Drittel der zuvor als Parkplatz genutzten Fläche sollten ab diesem Zeitpunkt für drei Jahre als Zwischennutzung für kulturelle und sonstige Projekte zur Verfügung stehen. «Die Schützenmatte soll zum Begegnungs- und Bewegungsraum für Jung und Alt werden», hiess es in der damaligen Medienmitteilung. Dieser Schritt läutete nach vier Jahren NEUstadt-lab eine nächste Phase der längerfristig geplanten Umfunktionierung des Ortes ein. Die Koordination der Schütz-Belebung und -Bespielung für die dreijährige Zwischennutzung übernahm der Verein «PlatzKultur».

Im vergangenen April wurde der Vertrag zwischen PlatzKultur und der Stadt Bern frühzeitig beendet. Für den ganzjährigen Weiterbetrieb der Infrastruktur auf der Schützenmatte wäre eine Baubewilligung erforderlich gewesen. Diese wurde aber aufgrund Einsprachen von Anwohnenden des Altenbergquartiers blockiert. Seither wurde die Schütz wieder sich selbst überlassen, Zukunft unklar.

 


Radikale Demokratie gegen Ausschluss

Ein Wunsch von Christian Metzger von «Wir alle sind Bern» wäre, dass die Behörden kreativer würden. Im Nutzungs- und Entwicklungskonzept zur Schützenmatte der Stadt Bern ist zwar immer wieder die Rede von partizipativen Planungsverfahren und Einbezug der Bevölkerung, doch das ist für Metzger eine leere Hülse. «Es bräuchte radikaldemokratische Entscheidungen darüber, wie der Platz genutzt werden soll», so die Forderung Metzgers. Zum Beispiel in Form eines «partizipativen Budgets», wie es bereits in Lausanne und Zürich zur Anwendung kommt. Nur durch solche Verfahren könne gewährleistet werden, dass Menschen nicht schon von vornherein von der Entscheidungsfindung und Mitbestimmung ausgeschlossen würden – zum Beispiel weil sie keinen Schweizer Pass besitzen, weil sie einem gewissen sozialen Status nicht entsprechen oder weil sie die Sprache nicht können. «Wir alle sind Bern» ist deshalb daran einen entsprechenden Vorschlag auszuarbeiten.

Ganz ohne Ausschluss verlief aber auch die Fotoaktion nicht. Mit dem eigenen Gesicht für ein Anliegen hinzustehen ist ein Privileg, das beispielsweise papierlose Menschen nicht haben. Ihre Portraits fehlen deshalb bei der Streetvernissage. Stellvertretend für alle Sans-Papiers klebt das grösste aller Bilder auf dem Boden: Es zeigt einen Jungen, dessen Gesicht nicht gezeigt werden darf und der sich ein Versteck in einem Kleidertrockner sucht. Wer sich die Portraits anschauen möchte, sollte unbedingt vor Freitag noch bei der Schützenmatte vorbeigehen, bevor sie der Regen wieder wegspült.