Politik - Kolumne

Die «schleichende Besetzung» der Krim

von Svitlana Prokopchuk 27. März 2025

Zwischen zwei Welten Elf Jahre ist es her, seit die Krim besetzt wurde. Grund für unsere Kolumnistin, diesem Ereignis nachzugehen. Sie spricht mit dem krimtatarischen Journalisten und Menschenrechtsaktivisten Alim Aliev und erfährt, dass die Russifizierungspolitik der Krim bis ins 18. Jahrhundert zurückgeht.

Im März 2014 erfuhr die ganze Welt, wie man in das Gebiet eines anderen Staates eindringen, es besetzen und behaupten kann und dies dann eine «Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit» nennen kann. Später wurde ein sogenanntes «Referendum» abgehalten, Proteste wurden verboten, russische Lehrer in die Schulen gebracht, damit die «Lektionen über das Wichtige» dazu führen, die ukrainischen und krimtatarischen Kinder zu russifizieren.

Die Annexion der Krim dauert seit 11 Jahren an. Ihr voraus ging aber eine «schleichende Besetzung». Denn die Krimtataren wurden schon einmal ihres Heimatlandes beraubt. Sie erlebten einen Genozid während der Massendeportation nach Usbekistan, Kasachstan und Russland. Zuvor standen sie unter der Herrschaft des Russisches Imperiums, das auf jede erdenkliche Weise versuchte, ihre nationale Identität zu zerstören.

Das «schwarze Jahrhundert»

Die Krimtataren sind Nachkommen verschiedener Völker, die in verschiedenen historischen Epochen auf der Krim lebten. Als Volk formierten sie sich zur Zeit des Krim-Khanats, eines Staates, der von 1441 bis 1783 auf der Halbinsel existierte. Im Jahr 1783 besiegte das Russische Imperium das Osmanische Reich. Die Krim wurde besetzt und dann von Russland annektiert. Das Leben der Krimtataren wurde so schwierig, dass sie massenhaft in das Osmanische Imperium emigrierten. Für die Zurückgebliebenen begann das «schwarze Jahrhundert» – so wird die Herrschaft des Russischen Imperium auf der Krim bezeichnet.

Unsere Aufgabe ist es, einen Staat wie die Schweiz zu schaffen. Die Völker der Krim sind ein wunderschöner Blumenstrauss, und jedes Volk braucht gleiche Rechte.

Auch das 20. Jahrhundert erwies sich für die indigene Bevölkerung der Krim als äusserst turbulent. Im Jahr 1917, mit dem Ende des Russischen Imperium, wurde die Krim-Volksrepublik ausgerufen. Vorsitzender der Regierung wurde Noman Çelebicihan. Er setzte sich für die Gleichberechtigung aller Völker auf der Krim ein und nahm sich dabei die Schweiz zum Vorbild: «Unsere Aufgabe ist es, einen Staat wie die Schweiz zu schaffen. Die Völker der Krim sind ein wunderschöner Blumenstrauss, und jedes Volk braucht gleiche Rechte und Bedingungen, denn wir müssen Seite an Seite gehen», sagte er damals. Fast ein Jahr später wurde er von russischen Bolschewiken in einem städtischen Gefängnis erschossen, sein Körper ins Schwarze Meer geworfen.

Der Genozid an den Krimtataren wird aber vor allem mit der Deportation von 1944 in Verbindung gebracht. Innerhalb von zwei Tagen wurden von den Bolschewiken mehr als 200’000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Sie wurden in Viehwaggons transportiert, viele starben unterwegs. Eine massenhafte Rückkehr begann erst 1989.

«Krimtataren sind wie ein Bumerang»

Damals kehrte auch Alim Aliev mit seinen Eltern auf die Krim zurück. Ein Jahr zuvor war er in Usbekistan geboren worden, wohin seine Familie deportiert worden war. Heute ist Aliev stellvertretender Generaldirektor des Ukrainischen Instituts des Ministeriums für Aussenpolitik der Ukraine, Journalist, Menschenrechtsaktivist, Forscher und Manager von Bildungs- und Kulturprojekten.

Trotz der Annexion der Krim zweifelt Aliev keinen Moment daran, dass die Krim wieder zur Ukraine gehören sollte. Aufgrund seiner Aktivitäten und Überzeugungen ist es für ihn heute aber gefährlich, in die Krim zurückzukehren.«Für die Russen bin ich ein ‹Terrorist› und ‹Extremist›, weil ich offen über ihre Menschenrechtsverletzungen auf der Krim spreche und die illegale Annexion verurteile. Gleichzeitig scherze ich, dass die Krimtataren wie ein Bumerang sind. Sie ‹werfen› uns aus unserer Heimat, aber wir kehren ständig zurück. Und jetzt gehen wir wieder den Weg der Rückkehr.»

Es findet eine «Militarisierung des Bewusstseins» statt

Die Ereignisse von 2014 bezeichnet Aliev als eine «wiederholte Kolonialisierung» der Halbinsel durch Russland. Denn: Ihr sei eine «schleichende Besetzung» vorausgegangen, die mit der Gründung der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol begann. Darüber hinaus sei die russische Aktivität im Bereich Bildung, Wissenschaft und Kultur ebenfalls ein Beginn der Besetzung gewesen. Schliesslich, so Aliev, vergab das russische Konsulat auf der Krim bereits vor der Annexion russische Pässe an die Bürger.

Doch dann wurde die Krim militärisch erobert. Trotz Protesten drangen die «grünen Männchen» (Russland selbst bezeichnete sein Militär so) in Verwaltungsgebäude ein, entfernten ukrainische Flaggen und hissten stattdessen russische.

Sie ‹werfen› uns aus unserer Heimat, aber wir kehren ständig zurück. Und jetzt gehen wir wieder den Weg der Rückkehr.

Das sogenannte «Referendum», das von den meisten Ländern der Welt nicht anerkannt wurde, fand am 16. März statt. «Irgendwo habe ich sogar gelesen, dass damals 108 % der Menschen Russland unterstützt haben. Oder ‹offiziell› 96 %. Aber jeder weiss, dass Russland auf der Krim das getan hat, was es am besten kann – die Realität gefälscht», fügt Aliev hinzu.

Menschen, die damals gegen die Annexion protestierten, wurden Repressionen ausgesetzt. In russischen Gefängnissen befinden sich derzeit mehr als 220 politische Gefangene, davon 134 Krimtataren.

Den Menschen, die jetzt auf der Halbinsel leben, werde das russische Narrativ aufgezwungen, laut Aliev werde faktisch eine «Militarisierung des Bewusstseins» durchgeführt. Die nationale Identität werde verändert, kulturelle Denkmäler zerstört, die Geschichte umgeschrieben, das Erlernen der ukrainischen und krimtatarischen Sprache unmöglich gemacht. Gleichzeitig wurden mehr als 800’000 Menschen aus Russland auf die Krim gebracht. Damit wird faktisch die Eigenständigkeit der Krimtataren, die in der Ukraine autonom waren, zerstört.

«Trotz allem», resümmiert Alim Aliev, «glauben wir an die Rückkehr der Krim zur Ukraine, denn das ist die bewusste Entscheidung der Krimtataren. Schliesslich sagen wir uns bei jeder Begegnung: Nächstes Jahr treffen wir uns in Bachtschyssaraj oder Jalta wieder.»