2018 wird die Berner Kunsthalle hundertjährig. Aus diesem Anlass sollen ihre Archivbestände erschlossen werden. Vorderhand haben sich 19 Studierende des Instituts für Kunstgeschichte der Uni Bern das Material vorgenommen, das nach Harald Szeemanns «Science fiction»-Ausstellung (8. Juli bis 17. September 1967) im Archiv gelandet ist. Unter der Leitung von Dr. Kerstin Strobanek haben sie sich zur Aufgabe gestellt, diesen Teil des Kunsthalle-Archivs zum Sprechen zu bringen.
Die AusstellungsmacherInnen schreiben: «Die Studierenden haben diesen Teil des Archivs unter vier Gesichtspunkten analysiert: Zunächst ging es um Harald Szeemann selbst, dessen Netzwerk und Arbeitsweise sich aus seiner umfangreichen Korrespondenz mit Künstlern, Sammlern und Verlegern rekonstruieren liess. […] Ein zweiter Themenkomplex der aktuellen Ausstellung beschäftigt sich mit den bildenden Künstlern, die in Szeemanns Schau nur einen geringen Anteil an Exponaten stellten, im Vergleich zu Bereichen wie der Literatur und vor allem der Trivialkultur (Comics und Spielwaren). […] Fokussiert betrachtet wurde drittens auch die Resonanz in der Presse. Szeemann verstand es zu polarisieren und traf mit seiner Ausstellung den Nerv der Zeit. Der Begriff ‘Science-Fiction’, der meist mit technischer Innovation verbunden und in erster Linie der Raumfahrt zugeschrieben wird, bündelte in den späten 1960er-Jahren sämtliche Ängste, die gesellschaftliche Veränderungen, politische Spannungen und der Wettlauf um die Vorherrschaft im Weltraum bereits geschürt hatten. […] Abschliessend [wird] die Frage gestellt, ob sich die Themen der Science-Fiction seit 1967 wesentlich verändert haben. Und welche Haltbarkeitszeit haben Vorstellungen von zukünftigen Lebens- und Gesellschaftsformen? Kann die Entwicklung von Zukunftsvisionen mit der tatsächlichen Entwicklung von Technik und Medizin überhaupt noch mithalten und welche bildgebenden Medien wählen Künstler heute, um diese rasende Entwicklung zu kommentieren?»
Nachstehend berichtet «Journal B» hart am Puls jener Zeit, als noch Undenkbares möglich war: als sich die Kunsthalle – man denke – noch von den Debatten in den Berner Untergrundkellern inspirieren liess und der «Bund» (18.7.1967) daraufhin trotzdem über eine «hochinteressante Ausstellung» berichtete:
*
Zweimal hat das kontinuierliche Gespräch, das damals zwischen dem Direktor der Kunsthalle, Harald Szeemann, und den Aktivisten der Diskussionskeller in der Altstadt, «Kerzenkreis» und «Junkere 37», eine Selbstverständlichkeit war, Kunsthalle-Ausstellungen massgeblich beeinflusst.
Achmed Hubers Morgendämmerung der Magier
Über das Entstehen von «Puppen – Marionetten – Schattenspiel (Asiatica und Experimente)» schrieb Szeemann 1962 im Katalog, «die Anregung von Walter Zürcher (Kerzenkreis Bern)» habe «schliesslich zu diesem Marionettenfestival kleineren Ausmasses» geführt. Der zweite Impuls kommt nun aus der «Junkere»-Szene. Nachdem Szeemann im Herbst 1966 bereits der «Phantastischen Kunst» und dem «Surrealismus» eine Ausstellung gewidmet hat, plant er nun eine weitere über «Science fiction». Sergius Golowin erinnert sich: «Die Entstehung und Veröffentlichung meines Buches ‘Götter der Atomzeit’ bewirkte, dass ich 1967 an der ‘Science Fiction’-Ausstellung in Bern tätig sein konnte – immerhin am Rande als Mitverfasser des Katalogs und als ‘Leihgeber’, da ich einige seltene Schriften zur neuen ‘Kosmischen Kunst’ besass, die ebenfalls gezeigt werden sollten.»
«Science fiction» beschäftigt die «Junkere»-Aktivisten seit Jahren als einer der Grenzbereiche der Wirklichkeit neben magischen, mythischen, phantastischen und parapsychologischen Phänomenen. In der «Junkere 37» lasen zum Beispiel im Sommer 1965 sieben Autoren unter dem Motto «2000… utopische Kurzgeschichten». Im Februar 1966 veranstaltete man eine Diskussion über «Science fiction» aus Anlass des dreissigsten Todestages von Howard P. Lovecraft. Im April 1967 referierte Achmed Huber über «Morgendämmerung der Magier oder: Das Sterben der Ideologen. Anmerkungen zum phantastischen Realismus». Und letzthin haben Golowin und Gilbert Bourquin unter dem Titel «Wer oder was kommt mit den fliegenden Tellern?» «Science fiction» in die biedere schweizerische Wirklichkeit einbrechen lassen.
Gilbert Bourquins schwebende Dreiangel
Bourquin galt damals als Spezialist für Unidentified Flying Objects, sogenannte Ufos: Denn am 16. August 1965 hatte er um genau 22.45 Uhr vom Dach eines Hochhauses in Biel aus «einen schwebenden Dreiangel» beobachtet, «von einem feinen Lichtstreifen umgeben»: «Im Innern jedes Winkels glänzte ein Lichtpunkt. Die Grösse des Dreiangels war ähnlich jenem eines Flugzeuges, welches in ungefähr 400 Metern Höhe fliegt. Das fliegende Objekt kam aus Südosten und bewegte sich in einer grossen Kurve über der Stadt, um dann plötzlich von der Bildfläche zu verschwinden.»
Seither will Bourquin wiederholt Ufos gesichtet haben: «Auch wenn ich mir anfangs die Frage stellte, ob ich nicht an Halluzinationen leide, kam ich nach unzähligen Beobachtungen zur Überzeugung, dass etwas Konkretes am Himmel vorüberschwebe.» Er sammelte sämtliche erreichbaren Berichte über Beobachtungen solcher Flugobjekte und kam schliesslich zu folgender Hypothese: «Das Ufo-Phänomen ist raum- und zeitlos. […] [Ufos] tauchen heute zu gewissen Perioden, oft gleichzeitig überall auf. Ich stelle mir deshalb vor, dass diese Objekte plötzlich, und aus eben vorläufig noch nicht erklärbaren Gründen, aus einer anderen Dimension in unser dreidimensionales Universum dringen. Hier werden sie uns sichtbar, entschwinden aber unserem Blick, sobald sie wieder in ihre, für uns nicht erfassbaren Dimensionen untertauchen.»
Obschon Bourquin mit dieser Erklärung das Phänomen der naturwissenschaftlich überprüfbaren Wahrnehmung entzieht, gilt er damals nicht als literarischer «phantastischer Realist». Immerhin ist er «Blick»-Reporter, steht mit beiden Beinen auf dem Boden des Boulevards und hat, vermutlich deshalb, in der Frage der Ufos zwei Seelen in seiner Brust. «Vielleicht irre ich mich. Dann behält Sergius Golowin recht (…), der das ganze Ufo-Phänomen als ein Wiedererwachen der Freude am Märchenhaften beim modernen Menschen erklärt», schreibt er im Katalog zur Kunsthalle-Ausstellung.
Erich von Dänikens interstellare Raumfahrt
Trotzdem wird Bourquin im kommenden Jahr unter dem Titel «L’invisible nous fait signe» ein Buch über die Ufos publizieren. Sein Pech: Ein anderer schweizerischer «Ufologe» wird ihn übertrumpfen. Der Davoser Hotelier Erich von Däniken wird in seinem Buch «Erinnerungen an die Zukunft» weder die vierte noch die n-te Dimension noch gar C. G. Jungs Archetypenlehre zur Erklärung der ausserirdischen Flugobjekte bemühen, sondern – ein Jahr vor der ersten bemannten Mondlandung – keck behaupten: «Die interstellare Raumfahrt gab es zu allen Zeiten! Die Erde wurde bereits vor Jahrtausenden von fremden Astronauten besucht!»
Einer von von Dänikens unerbittlichsten Kritikern, der dieses Buch in der NZZ geradewegs als plumpen Aufwisch «angelsächsischer, französischer und russischer ‘phantastischer Realisten’» entlarvt, wird Sergius Golowin sein. Trotzdem wird von Dänikens Variante des Phantastischen mit Abstand zur erfolgreichsten schweizerischen werden. Mit weiteren Büchern wird er eine «eigentliche allgemeine Mode vom Glauben an ‘Sternen-Götter’» entfesseln und bis Ende der siebziger Jahre ungefähr 45 Millionen Bücher verkaufen.
Sergius Golowins Interesse an der Mythenbildung
1967 steht «Science-fiction» in der Berner Subkultur aber noch für eine lustvoll fiktionierte Wirklichkeit: Im August erscheint die neues Ausgabe des politerarischen Aperiodikums «apero» mit Kurzgeschichten und Gedichten zum Thema, verfasst von ziemlich allen damaligen «Keller-Poeten», und im September diskutiert man in der «Junkere 37» anhand von Beispielen «utopische Texte von Bernern» unter dem Titel «Swiss science fiction». Spiritus rector der «Junkere 37» ist eben weder Bourquin noch von Däniken, sondern Golowin, den an «Science fiction» im allgemeinen und an fliegenden Untertassen im speziellen die mythenbildende Kraft aussersinnlicher Phänomene interessiert. Im Katalog zur Kunsthalle-Ausstellung schreibt er: «Tatsache ist der magische Bann, in den uns diese Bilder, geworden aus der Verbindung sämtlicher Mythen von gestern und aller in uns liegenden Möglichkeiten von Morgen, schlagen.»
In der «Science-Fiction»-Ausstellung sind ab dem 8. Juli 1967 in der Kunsthalle nicht nur Werke von Joseph Beuys oder Roy Lichtenstein, sondern auch Darstellungen des Phänomens in Filmen, Illustrierten und «Comic-strips» zu sehen. «‘Science fiction’», schreibt Szeemann im Katalog, «ist keine reine Kunstausstellung, sondern Demonstration eines sowohl literarischen und künstlerischen, als auch populären Phänomens, das sich überall und in jeder Form manifestieren kann.» Vermutlich diese Zusammenführung von avantgardistischer Hochkultur und Populärkultur – «Volkskultur», wie die «Junkere»-Aktivisten sagen – macht diese Ausstellung mit Abstand zur publikumswirksamsten der ganzen Aera Szeemann – 17088 BesucherInnen strömen innert zehn Wochen in die Kunsthalle.»