Als ich vor 34 Jahren in die Schweiz kam, sagten mir Landsleute, die bereits hier lebten: «Zvicëranët shohin vetëm për veten e tyre. Ata nuk kujdesen shumë për të tjerët, madje as për prindërit e tyre.» («Schweizer schauen nur für sich. Sie kümmern sich nicht gross um andere, nicht einmal um ihre Eltern»). Das tönte für mich unglaublich, dennoch speicherte ich die Worte in meinem Hinterkopf. Nach kurzer Zeit merkte ich, dass die Schweizer eigenständig leben. Wer das nicht kann, wird vom Staat unterstützt. Vielleicht ist diese Unabhängigkeit von der Familie ein Grund, weshalb Familienbanden nicht so sehr gepflegt werden. Ich versuchte zu verstehen.
Im Kosovo war und ist Familie das Wichtigste. Weil albanische Familien immer wieder durch Kriege auseinandergerissen wurden, ist der Zusammenhalt zwischen Familienmitgliedern gross. Verwandte waren immer eng miteinander verbunden und es war selbstverständlich, dass jeder für jeden sorgte. Die allermeisten Albaner denken, dass dies aus «Liebe zur Familie» geschieht. Doch, meiner Meinung nach ist der Kampf ums Überleben und die schwache wirtschaftliche Lage ein ebenso wichtiger Grund dafür. Arbeitslosen- und Sozialunterstützung gab und gibt es nicht. Alle waren und sind aufeinander angewiesen.
Auch wenn die Söhne und Schwiegertöchter 40 oder 50 Jahre alt waren, mussten sie (und müssen sie vielerorts heute noch) die Eltern/Schwiegereltern fragen und ihnen gehorchen.
Schon den Kindern wird gepredigt, dass die Eltern heilig sind. Man vergötterte sie und im Alter sorgte man für sie. Auch wenn die Söhne und Schwiegertöchter 40 oder 50 Jahre alt waren, mussten sie (und müssen sie vielerorts heute noch) die Eltern/Schwiegereltern fragen und ihnen gehorchen. Das erwartet die albanische Mentalität. Und wenn es einmal nicht so ist, werden die Eltern wütend, gekränkt, sind eingeschnappt und beleidigt. Dazu schämen sie sich vor Verwandten und Bekannten. Das prägt die albanische Gesellschaft.
Und die Kosovo-Albaner in der Diaspora? Ein grosser Teil befürchtet, die eigene Kultur und Identität zu verlieren, deshalb leben sie nach alter Tradition. Das heisst: die Eltern bestimmen über ihre Kinder, auch wenn diese längst volljährig sind. Man lebt zum Teil in einem Haushalt, auch wenn die erwachsenen Kinder längst selbst Eltern sind.
Die jungen Menschen werden eigenständiger und können sie sich besser gegen die Tradition wehren. Zum Glück!
Meine Kinder sind beide Mitte Zwanzig ausgezogen und seitdem führen sie je einen eigenen Haushalt. Ich bin stolz auf sie, aber ich muss gestehen, dass ich sie anfänglich sehr vermisst habe. Als ich einmal meinem Sohn sagte, dass wir uns schon lange nicht mehr gesehen haben, reagierte er erstaunt: «Mami übertreib nicht, drei Wochen sind nicht lang!». «Mir kommt es aber ewig lang vor – denn ich liebe dich so sehr,» sagte ich und fragte ihn dann: «Wie wäre es für dich, wenn du deine liebe Freundin drei Wochen nicht siehst?» Ein wenig nachdenklich meinte er: «Mama, das kannst du nicht vergleichen!»
In den Städten im Kosovo aber auch in der Diaspora ist unter den Jungen heute ein Mentalitätswandel im Gang. Die jungen Menschen werden eigenständiger und können sie sich besser gegen die Tradition wehren. Zum Glück!
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Das Buch «Warum wir unseren Eltern nichts schulden» der Schweizer Philosophin Barbara Bleisch war für mich erhellend. Sie schreibt darin zum Beispiel: «Es ist ja tatsächlich nicht von der Hand zu weisen, dass Eltern enorm viel für ihre Kinder getan haben, ja, ihnen sogar das Leben schenkten.» Aber aus dieser Tatsache abzuleiten, dass Kinder ihren Eltern etwas «schulden», sei falsch. Es töne vielleicht egoistisch, aber es genüge, wenn Kinder dankbar seien. Aber zu «Dankbarkeit» könne niemand gezwungen werden. «Grummelnd seine Schulden abzuzahlen, funktioniert bestens; grummelnd dankbar zu sein, hingegen nicht.» Denn – so Bleisch – weiter: «Liebe und Zuwendung wollen nicht vorgeschrieben sein, sie sollen aus freiem Herzen verschenkt werden». Dieser Satz ist für mich der Schlüssel zum Verständnis der Schweizer Mentalität, die mir am Anfang so fremd war.