Die radikale Imagination der Jackie Karuti

von Susanne Leuenberger 18. Mai 2023

Kunst Mit «Body. Machine. Location» lädt die Kunsthalle zu Bild-Ton-Raum-Arbeiten der kenianischen Künstlerin Jackie Karuti – und holt in «Archival Ramblings» Illegales und Zensuriertes aus dem Archiv.

Auch Künstler*innen betreiben Wissenschaften. Sie erkunden die Welt mit Materialien, Medien und Instrumenten, nicht ganz unähnlich wie es Forscher*innen tun. Doch im Unterschied zu Letzteren schaffen sie keine künstlichen Versuchsanordnungen. Denn das Feld, das die Kunst erkundet, ist das Leben selbst.

Ungefähr dies sind die Gedanken, die sich beim Gang durch die beiden aktuellen Ausstellungen der Kunsthalle einstellen. Es gibt Bildschirm-Assemblages mit Landschaftsaufnahmen, die sich mit intimen, suggestiven Stills aus Innenräumen abwechseln. Dazu ertönen aus einem Nirgendwo Gitarrenballaden in Endlosschleife, unterlegt mit niedrigfrequenzig-verstörenden Tonabfolgen und Geräuschen.

Sie hält die Aufnahmegeräte so lange auf einen Punkt gerichtet, bis früher oder später etwas passiert – oder ständig, oder eben auch gar nicht.

Und am Boden liegen rätselhafte Installationen aus Holz und Karton. «Body. Machine. Location» nennen sich die Bild-Ton-Raum-Arbeiten der kenianischen Künstlerin Jackie Karuti, die sich über Foyer, die seitlichen Säle und das Untergeschoss erstrecken.

Eine Natur der Rätselhaftigkeit

Ihre Kunst erkundet Landschaften, Orte und die dazugehörigen Zustände, die Gefühle und Veränderungen davon, wobei nicht ganz geklärt werden kann, was, wo und wann hier alles geschieht, wenn so etwas wie Erkenntnis einsetzt: Liegt diese in den Dingen selber verborgen, in der Registration durch die Aufnahmeräte in einer unbestimmten Vergangenheit oder in der späteren subjektiven Betrachtung, also erst hier und jetzt?

Genau diese Rätselhaftigkeit, wie Orte und Wissen zusammenkommen, ist es, die Karutis Arbeiten vermessen. Auf einer Leinwand strömen unablässig Fische durchs Bild, auf einer anderen sind Kühe auf einer Weide, aber auch Nahaufnahmen von Vögeln sind zu sehen.

Zwei Bildschirme am Boden, einen an der Wand. Es sind Kühe zu sehen.
Jackie Karutis «Body. Machine.Locations» spielt Gegebenheiten ab (Foto: Corinne Futterlieb).

Karuti arbeitet mit Kameras und Tongeräten, die einen Ort teils auch über Jahre hinweg beobachten und aufzeichnen. Sie hält die Aufnahmegeräte so lange auf einen Punkt gerichtet, bis früher oder später etwas passiert – oder ständig, oder eben auch gar nicht. Neben Aufnahmen, die unter anderem in Japan und Kenia entstanden (sie filmte beispielsweise in einem verglasten Aufzug oder verfolgte über längere Zeit die Entstehung einer Autobahn), zeichnet eine Kamera die Bewegungen des Publikums im Eingangssaal auf.

Teilnehmend oder teilnahmslos?

Ist das nun teilnehmende oder teilnahmslose Beobachtung? Wahrscheinlich etwas Neues, das sich im Prozess der Registrierung, Wiedergabe und Rezeption an einem anderen Ort ergibt – und wenn es auch nur auf dem Bildschirm im nächsten Raum ist, und die Gefilmten die Mitbesuchenden sind. Ihre aufnehmende Kunst nimmt dabei Bezug auf frühe japanische Filmtraditionen, in denen Landschaften zu Tatorten werden.

Karuti selbst nennt ihr Unterfangen «radical imagination». Ihre Registrier- und Messgeräte dienen als Prothesen der Intuition.

Das Feld, das die Kunst erkundet, ist das Leben selbst.

Nach und nach erschliesst sich so auch die turmartige Skulptur im Foyersaal, mit der Karuti vor Ort empfängt: Sie ist aus Wanderstöcken geschichtet – auch dies prothetische Geräte, mit denen der Raum schrittweise durchmessen wird.

Ein Skulptur aus Holz, die aussieht wie ein Turm.
Die turmartige Skulptur im Foyersaal, mit der Karuti vor Ort empfängt, erschliesst sich erst nach und nach (Bild: Kunsthalle Bern).

An der Spitze der turmartigen Skulptur dreht sich eine kranzartige Form aus Karton im Kreis. Dieses seltsame Gebilde aus Holz und Karton erzeugt einen Schatten, der an einen Filmprojektor erinnert. Hier kommt alles zusammen: Ort, Vermessung, Projektion, Rezeption, Intuition – und Landschaften als Tatorte der Imagination.

«Go vegan», «FTP», «031»

Um Tatorte gehts unter anderem auch in den «Archival Ramblings», einer absichtlich arbiträren und verspielten Zusammenstellung aus Archivmaterialien der Kunsthalle, die sich im zentralen Saal befindet und in dem man sich, vermeintlich unterwegs in Karutis Ausstellung, wiederfindet.

Hier dokumentiert eine Wand die Sprayarbeiten, die die Fassade des Kunsthauses zum Träger illegaler Botschaften machten. «Go vegan» stand da schon, «Leben ohne Vergangenheit» oder «FTP», aber auch die «031»-er verewigten sich mal für kurze Zeit, bevor die Reinigungsfirmen ihre Arbeit taten. Die Kunsthalle zeigt hier also das, was zum Verschwinden gebracht wurde.

Blick auf die Kunsthalle. An der Wand hängen Bilder, im Zentrum steht eine Frau an einem Tisch mit einem Laptop.
«Archival Ramblings» ist eine absichtlich arbiträre und verspielte Zusammenstellung aus Archivmaterialien der Kunsthalle (Bild: Kunsthalle Bern).

Michel Foucaults «Archäologie des Wissens», aber auch Texte zum «archival turn» des Feminismus und Luis Borges’ «Die Bibliothek von Babel» liegen als Begleitlektüre auf. Der Fokus liegt auf der Unvorhersehbarkeit des Archivierens als diachrone soziale Praxis. Und auf ihrem subversiven Potenzial.

Von Zensur bis Tarot-Sets

Von der gegenüberliegenden Wand leuchtet die farbenfrohe Kartenserie «Ta(rot) Pack» der amerikanischen Künstlerin Dorothy Iannone, die ihre sexuelle Beziehung zum Schweizer Künstler Dieter Roth allegorisiert. 1969 hätten die expliziten Kartendecks in der Kunsthalle gezeigt werden sollen, fielen aber der Zensur zum Opfer. In der Folge schmiss der damalige Kunsthalle-Leiter Harald Szeemann hin.

Der Fokus liegt auf der Unvorhersehbarkeit des Archivierens als diachrone soziale Praxis.

Nun sind Repliken des Tarot-Sets zu sehen: auch sinnbildlich dafür, dass es keine einzige Lesart und Nutzung der Spuren gibt, die ein Archiv anlegt. Was für eine Zukunft hin aufbewahrt bleibt und potenziell (wieder) hervorgebracht wird, entscheiden nicht die Archivare alleine.

Sondern auch die, die den Fundus durchstöbern. Wohl passend übersetzt mit «Ausschweifungen aus dem Archiv», geht die hauseigene Ausstellung im assoziationsreichen Parcours in Karutis «Body. Machine. Location» über, was Lust macht, unterschiedliche Laufrichtungen auszuprobieren. Und jedesmal stellen sich dabei neue Einsichten ein.

Jackie Karuti BODY MACHINE LOCATION 13. Mai – 9. Juli 2023
Archival Ramblings: 13. Mai – 9. Juli 2023

Diese Artikel erschien zuerst bei der Berner Kulturagenda.