«Die Pole schmelzen so schnell wie nie zuvor»

von Anne-Careen Stoltze 20. September 2012

Der Berner Klimaforscher Thomas Stocker muss meist schlechte Nachrichten überbringen und mit Klimaskeptikerinnen und Klimaskeptikern streiten. Im Interview verrät er, wie er mit Frustration umgeht und wie sein CO2-Footprint aussieht.

Herr Stocker, Sie leiten eine Arbeitsgruppe des Uno-Weltklimarates, Sie sind einer der führenden Forscher zum Thema Klimaschwankungen und appellieren in Ihrer Funktion an die Politik. Sind Sie eigentlich selbst ein Vorbild?

Thomas Stocker:

Nein, ich könnte noch viel mehr tun. Ich komme regelmässig mit dem Velo ins Büro. Aber beruflich bedingt habe ich einen grossen CO2-Footprint, weil ich oft an Sitzungen und Konferenzen fliege. Das ist natürlich nicht gut. Aber beispielsweise habe ich Vorträge für einen Kongress schon mehrere Male auf Video aufgenommen und dann vor Ort abspielen lassen. Danach stand ich per Live-Schaltung für Fragen zur Verfügung. Das ist eine sehr gute Lösung, wenn es darum geht, einen zwanzigminütigen Vortrag irgendwo auf der Welt zu halten. Dafür muss man nicht live vor Ort sein. Ein Face-to-Face-Gespräch kann man aber nicht ersetzen. So müssen sich alle 250 Personen an einem Ort treffen, die für den Weltklimabericht 2013 zusammenarbeiten. Telefonkonferenzen funktionieren nach meiner Erfahrung nur mit bis zu zehn Personen und mit einer sehr guten Leitung – sonst wird es schwierig.

In Bern sind wir schon relativ weit.

Thomas Stocker

Was könnte die Stadt Bern aus Ihrer Sicht für eine bessere CO2-Bilanz machen?

S:

In Bern sind wir schon relativ weit. Das Problem der Stadt ist der alte, denkmalgeschützte Gebäudepark. Erst kürzlich hat jedoch der Grosse Rat den vorausschauenden Entscheid gefällt, dass in den nächsten dreissig Jahren die Heizölanlagen in allen Gebäuden ersetzt und stattdessen erneuerbare Energien oder Erdwärme zum Heizen genutzt werden sollen. Auch in einer denkmalgeschützten, schönen Altstadt kann moderne, effektive Technologie zum Einsatz kommen. Zusätzlich ist eine entsprechend gute Gebäudeisolation nötig.

Wie ist Ihr Institut isoliert?

S:

Ich habe keine Energiebilanz für dieses Gebäude erstellt. Das Haus ist aus den 1960er-Jahren und recht solide gebaut. Wir haben vor drei Jahren neue Fenster bekommen und peu a peu wird das Gebäude so weit saniert, wie es eben die Kantonsfinanzen erlauben.

Bern bemüht sich und die Schweiz bemüht sich, aber ist es nicht sinnlos, wenn Brasilien, Indien und China gerade erst anfangen, sich mit dem Thema zu beschäftigen?

S:

Natürlich hat das einen Nutzen! Wenn Sie in einer Gruppe auf einen Berg steigen wollen, dann können Sie nicht sagen «Ich mache nicht den ersten Schritt». Wenn das alle sagen, dann kommt die Gruppe nie zum Gipfel. Im Klimaschutz machen die Länder mit der besten Ausrüstung, mit der grössten Erfahrung den ersten Schritt, und das sind die Industrienationen. Wir haben zudem eine sehr gute Infrastruktur und Forschung und wir verfügen über die nötigen finanziellen Mittel. Falls, ich sage falls, wir als Gesellschaft überhaupt entscheiden, dass wir den Klimawandel stoppen wollen.

Wenn wir die Emissionen nicht entschieden senken, können wir die 2°-Celsius-Marke auf keinen Fall halten.

Thomas Stocker

Ist der Prozess der Klimaerwärmung – bei einem Ziel von 2° Celsius – überhaupt noch aufzuhalten?

S:

Auf jeden Fall. Aber es wird eng, und sicher nicht, wenn man nichts macht. Momentan sind wir jedoch im Modus Business as usual und schreiben weiterhin fast jedes Jahr global Emissionsrekorde. Wenn die Emissionen nicht entschieden gesenkt werden, können wir die 2°-Celsius-Marke auf keinen Fall halten.

Trauen Sie der Menschheit denn ein so grundlegendes Umdenken noch zu?

S:

Grundsätzlich ja, denn es gab in der Vergangenheit verschiedene lokale aber auch globale Beispiele, wo es geglückt ist, Probleme mit vernünftigen, wissenschaftlich fundierten Entscheiden zu lösen. Ich gebe Ihnen zwei Beispiele: Zum einen waren die Schweizer Gewässer in den 1960er-Jahren verschmutzt. Man konnte nicht in den Seen oder Flüssen baden. Heute können wir in allen Seen baden und im Rhein kommt der Lachs. Das ist nur deshalb möglich gewesen, weil in den 1960er-Jahren sehr strenge Gewässerschutzgesetze implementiert wurden und die Forschung erkannt hat, welche Auswirkungen die chemischen Stoffe haben und welche Prozesse eingedämmt werden müssen. Das war damals ein lokales Problem. Aber auch damals gab es Parteien, für die der Gewässerschutz gar nicht sinnvoll war. Sie sagten beispielsweise, wir zerstörten Arbeitsplätze, wenn wir den Bauern das Düngen verböten oder regulieren würden. Ähnliche Argumente werden heute in Zusammenhang mit dem Klimawandel wieder gebracht.

Und das zweite Beispiel …

S:

… ist die Ozonlochproblematik. Ende der 1970er-Jahre haben Wissenschaftler den Prozess erkannt und verstanden. Aber erst nachdem ein Ersatzstoff für die schädlichen Treibgase gefunden und patentiert worden war, wurden 1984 mit einem global verbindlichen Protokoll die FCKW verboten. Heute sehen wir, dass diese Massnahme tatsächlich den gewünschten Effekt hat, nämlich dass die Konzentrationen dieser Stoffe in der Stratosphäre abnehmen und sich die Ozonschicht wieder erholt. Das geht natürlich langsamer, als die Schweizer Gewässer ihre Trinkwasserqualität zurückgewonnen haben. Aber es ist ein Beispiel, bei dem wissenschaftliches Verständnis und ein globales Protokoll zu einer Verbesserung geführt haben.

Wir stehen vor einer dritten industriellen Revolution.

Thomas Stocker

So einfach ist es mit dem CO2 doch nicht.

S:

In der Tat ist das Energieproblem ein sehr viel komplexeres und umfassenderes Problem, weil es alle Bereiche des modernen Lebens betrifft. Wenn wir die Sonnenenergie ernten könnten, brauchten wir keine grosse Prozentzahl dessen, was wir für unsere elektrische Energie benötigen. Das Problem ist die Speicherung und der Transport. Wir haben eine globale Infrastruktur, die für Erdöl und fossile Brennstoffe eingerichtet ist. Wir sprechen tatsächlich von einer dritten industriellen Revolution, und das wird nicht in drei oder vier Jahren gelöst sein, sondern benötigt mehrere Jahrzehnte.

Wird der Mensch also erst umdenken, wenn die fossilen Brennstoffe aufgezehrt sind?

S:

Ich hoffe nicht, denn die Reserven sind sehr gross. Zudem wird der Abbau zunehmend schwieriger, die Technologie ist irgendwann veraltet, der Treibstoff wird teurer und auf der anderen Seite haben wir Kosten, die aus Schäden und der Anpassung an die veränderten Klimabedingungen resultieren. Der Wasserkreislauf wird sich verändern und der Meeresspiegel steigt an. Irgendwann ist der Moment da, an dem wir uns nicht weiter anpassen können und es zu teuer wird. Dann müssen wir umsteigen. Aber eigentlich ist der Moment schon heute da.

Was ist Ihr schlagendes Argument gegenüber Politikern und Wirtschaftsleuten?

S:

(Lacht.) Ich habe leider keine Wunderwaffe. Wenn ich mit Parteien aus dem einen Lager spreche, dann verstehen sie mich. Wenn ich mit der Gegenseite rede, wollen sie entweder nicht zuhören oder ich erkläre sieben Mal dasselbe und es geht ihnen einfach nicht in den Kopf, weil andere Interessen Priorität haben. Ich habe kein einzelnes, durchschlagendes Argument, wie es so oft von der Politik gefordert und von der Öffentlichkeit erwartet wird. Die Wahrheit ist nuancierter.

Der Klimawandel ist ein sehr komplexes Thema und man darf nicht erwarten, dass die Menschen es beim ersten Mal begreifen.

Thomas Stocker

Was die Wissenschaft offerieren kann, ist objektive Information, Fakten, im Gegensatz zu vielen anderen Informationsquellen. Unsere Aufgabe ist es, kontinuierlich und präzise zu informieren und auch immer die Unsicherheiten mitzuteilen. Die Wissenschaft nimmt aber weder den Politikern noch der Gesellschaft die Verantwortung ab.

Sie müssen oft die gleichen Fakten wiederholen – frustriert Sie das?

S:

Einesteils ja. Ich bekomme viele Anfragen und kann nicht immer wieder dieselben Fragen von Einzelnen beantworten, vor allem dann nicht, wenn diese mit zweifelhaften Absichten gestellt werden. Ich verweise dann eben auf passende Artikel und Publikationen. Auf der anderen Seite ist der Klimawandel ein sehr komplexes Thema und man darf nicht erwarten, dass die Menschen es beim ersten Mal begreifen. Ich stelle aber auch fest, dass die politischen Entscheidungsträger Informationen unterschiedlichster Qualität und Herkunft mit sorgfältig erarbeiteten und nachgeprüften Forschungsergebnissen vieler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf dieselbe Stufe stellen. Das ist dann frustrierend.

Kürzlich schrieb die «Weltwoche» in einem Beitrag, dass sich die Erde in den letzten 2000 Jahren abgekühlt hat, und zitierte Forschungsergebnisse der Uni Mainz und der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), die die Arbeit des Uno-Klimarats grundsätzlich infrage stellt. Was entgegnen Sie dem?

Für diese faktenresistente Postille, die «Weltwoche», habe ich heute keine Zeit mehr.

Thomas Stocker

S:

Das wundert mich bei der «Weltwoche» überhaupt nicht. Die meldet sich regelmässig, wenn sie eine vermeintliche Aussage in der wissenschaftlichen Literatur entdeckt, die sie in Richtung Klima-Entwarnung uminterpretieren kann. Ich kenne die Wissenschaftler aus Mainz und am WSL persönlich und habe ihre Arbeit gelesen. In dem Text ist keinerlei Hinweis darauf enthalten, der den Klimawandel infrage stellt, der jetzt bereits abläuft und in den nächsten Jahrzehnten und Jahrhunderten noch ansteht. Hier hat sich die «Weltwoche» einmal mehr eine Interpretation zurechtgelegt. Zwar war es in Skandinavien im Mittelalter etwa gleich warm wie im 20. Jahrhundert. Diesen Fakt haben sofort sämtliche Skeptikerforen und -blogs aufgenommen, in diesem Pool bedient sich die «Weltwoche» gerne. Natürlich wurde geflissentlich verschwiegen, dass damals die Erdachse ganz wenig anders orientiert war und im Sommer die Einstrahlung der Sonne stärker war.

Die «Weltwoche» ärgert Sie.

S:

Sie ist für mich kein Massstab der objektiven Information und vor allem nicht auf dem Gebiet des Klimawandels. Bereits vor acht Jahren habe ich mir die Mühe gemacht, einen unsäglichen Artikel zu korrigieren. Für diese faktenresistente Postille habe ich heute keine Zeit mehr. Ich habe interessanterweise nichts in der «Weltwoche» gelesen, als ein Teil derselben Wissenschaftler herausgefunden haben, dass in den letzten fünfhundert Jahren die fünf wärmsten Sommer alle nach 2001 und die fünf kältesten Sommer alle vor 1924 stattgefunden haben. Das Resultat hat es nur in die wissenschaftliche Literatur geschafft, nicht in diese Medien – erstaunlich?

Kratzen solche Veröffentlichungen am Image des IPCC?

S:

Solche einzelnen Berichte sind nicht problematisch. Es gibt ja die Publikationsfreiheit und die ist ein wichtiges Gut. Es ist hingegen problematisch, dass Bücher oder Publikationen veröffentlicht werden können ohne einen wissenschaftlichen Hintergrund oder eine wissenschaftliche Basis und dann auf eine Stufe gestellt werden mit Berichten, die mehrmals durch strenge Begutachtungen gehen. Die Qualität der Information ist darin gar kein Thema.

Fakt ist aber, dass es vor knapp zwei Jahren innerhalb des Klimarates einen rechten Wirbel gab, wegen der falschen Angabe über die Gletscherschmelze im Himalaja.

S:

Ja, das war eine unglückliche Sache, ein Fehler. Dieser Fehler ist durch den Begutachtungsprozess geschlüpft. Aber diese Aussage war nicht relevant für das Schlussdokument. Wir haben daraus gelernt, indem nun ein ausgeklügeltes Fehlerprotokoll zur Anwendung kommt. Übrigens hat unsere Arbeitsgruppe seit 2007 eine Erratum-Seite, seit dem Erscheinen des letzten Berichts. Das haben nun alle Arbeitsgruppen implementiert. Letztlich hat der Fehler aber nichts an dem robusten Gebäude des 3000-seitigen Klimaberichtes von 2007 verändert.

Es wird mehr Hochwasser mit grösseren Spitzen geben.

Thomas Stocker

Kommen wir zurück zu Bern. Was bedeutet der Klimawandel für Bern in den nächsten fünfzig Jahren?

S:

Für Bern und jede andere Stadt auf der Alpennordseite heisst das wärmere Temperaturen, vor allem im Sommer. Der Wandel wird sich in verändertem Niederschlag ausdrücken mit einer leichten Abnahme im Sommer. Es wird mehr Hochwasserereignisse mit grösseren Spitzen geben. Wenn beispielsweise die Schneedecke zu schnell schmilzt. Kommt das zusammen mit einem schneereichen Winter – viel Schnee schliessen wir ja nicht aus –, dann bekommen wir starke Abflussspitzen. So wird sich auch das Abflussregime in den Bergen verändern. Bern wird in besonderem Masse verwundbar sein, denn wir liegen am Ausfluss der schmelzenden Gletscher des Berner Oberlands.

Wie lange geben Sie den Schweizer Gletschern noch?

S:

Das kommt darauf an, von welchem Szenario wir ausgehen. In einem niedrigen Szenario werden wir einen Teil der Gletscher unterhalb von 3000 Metern über Meer noch haben. Bei einem hohen Emissionsszenario zeigen die Berechnungen der Kollegen jedoch, dass die Gletscher unterhalb von 3000 Metern – das sind viele – langfristig nicht überleben können.

Nun gibt es auch Autoren, wie etwa Björn Lomborg, die versuchen, den Folgen des Klimawandels etwas Positives abzugewinnen. Was wäre so schlimm daran, wenn die Alpengletscher schmölzen?

S:

Schmelzen die Gletscher, bedeutet das verstärkte Murgänge und Felsstürze. Thomas Stocker Das ist genau so, wie wenn man fragt: «Was betrifft es mich, wenn der Sibirische Tiger ausstirbt?» Diese ethische Haltung teile ich nicht. Wir haben auf der Erde unzählige kostenlose Ökosysteme, die uns Nahrung und Rohstoffe zur Verfügung stellen. Die Bedingung dafür ist unter anderem ein stabiles Klima. Wenn sich das Klima ändert, ändert sich die Leistung dieser Ökosysteme und es entstehen Kosten. Im Falle der Gletscherschmelze bedeutet das verstärkte Murgänge und Felsstürze. Bestimmte Regionen könnten unbewohnbar werden. Das wäre wohl Herrn Lomborg nicht egal, wenn er zügeln müsste.

Im nächsten Jahr geben Sie den 5. Weltklimabericht heraus – auf was müssen wir gefasst sein?

S:

Wir sind im Moment in dem Stadium, wo wir einen Stapel von knapp einem halben Meter Papier haben. Wir haben bereits eine erste weltweite Begutachtungsrunde hinter uns, die 21 400 Kommentare erzeugt hat. Diese wurden von den Autoren bereinigt. Den Inhalt liefern die publizierten Arbeiten der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den vergangenen sechs Jahren. Im neuen Bericht wird es zwei Kapitel geben, über Wolken und Aerosole in der Atmosphäre sowie den Anstieg des Meeresspiegels. Unser Fokus liegt auf den Beobachtungen der letzten Jahre: beispielsweise darauf, wie sich die Eisschilde an Nord- und Südpol entwickelt haben.

Und was passiert dort gerade?

S:

Sie schmelzen so schnell wie noch nie und verlieren jedes Jahr so viel Wasser, dass man damit den gesamten Kanton Bern mit sieben Meter Wasser bedecken könnte. Zudem bricht die Eisdecke in der Arktis jeden Sommer auf – da schrieben wir Rekorde in den letzten Jahren. Während wir jetzt reden, ist der nächste Rekord erreicht: Soweit die Beobachtungen zurückreichen, war die Arktis noch nie von so wenig Eis bedeckt wie im September 2012.

Können Sie Wetter eigentlich noch geniessen?

S:

Natürlich. Ich nehme es, wie es kommt, und mag die Sonne ebenso wie Regen oder Schnee. Mich besorgt nicht das Wetter von morgen, sondern das Klima von morgen. Mit einem veränderten Klima wird sich dann logischerweise auch die Statistik des Wetters verändern.