Durch Ausserholligen könnte man hindurchfahren, ohne es zu merken. Kommt man von Bümpliz her ist da das Haus der Religionen und schwupps kommt schon die Schlossstrasse, der Loryplatz, die Insel, der Bahnhof. Böse Zungen flüstern, es liege daran, dass Ausserholligen gar kein richtiges Quartier sei. Stattdessen besteht es aus einzelnen, kaum zusammenhängenden Teilen: dem Europaplatz, den Schrebergärten, mehreren Industrie- und Gewerbekomplexen, Wohnblöcken im Nordosten, dem Weyermannsbad und dazwischen Gleise, Gleise, Gleise.
«Dieses Gebiet hier ist effektiv ein Unort», sagt Thomas Accola und blickt sich um, «Ein Abstellraum.» Der pensionierte Radiojournalist steht unter dem Autobahnviadukt am Europaplatz. Es ist laut, Trams, Velos und Autos queren den Platz, Zugbremsen quietschen, eine Gruppe Jugendlicher hat sich zum Skaten getroffen. Spaziert man von hier unter den Gleisen des Bahnhofs Europaplatz Nord hindurch und übers rechterhand liegende EWB-Areal, wird schnell deutlich, was Accola mit «Unort» meint.
Das Gebiet, das zur Hälfte zum Stadtteil Holligen-Fischermätteli und zur Hälfte zu Betlehem-Bümpliz gehört, wird von zwei Bahnlinien und einem Autobahnviadukt durchschnitten. Nur zwei schmale Unterführungen verbinden den Norden Ausserholligens, wo sich das Weyermannsbad und die Überbauungen Weyermannsaus Ost befinden, mit dem Süden. «Es gibt keine Verbindungswege in diesem Quartier», erklärt Accola, der seit zwanzig Jahren im Quartierverein Holligen-Fischermätteli (QVHF) aktiv und seit zwei Jahren dessen Präsident ist, «die Verkehrslinien wirken wie Dämme.»
Schon immer am Rand
Aus der Luft betrachtet, wirkt Ausserholligen wie das Nadelöhr, durch das jeglicher Verkehr von Westen nach Osten fliessen muss. Das ist schon seit Jahrhunderten der Fall. Im Süden und Norden von hügeligem Waldgebiet begrenzt, entwickelten sich schon früh Verkehrswege durch das heutige Ausserholligen. Mitte des 19. Jahrhunderts führte eine Bahnlinie von Bern in Richtung Fribourg durch dieses Gebiet. Auch die Schlossstrasse und die Weissensteinstrasse waren dazumal schon angelegt – wenn sie auch noch anders hiessen.
Dutzende Projekte sind in Planung, drei Milliarden Franken werden in den nächsten zwanzig Jahren von privater und öffentlicher Hand in dieses Areals investiert.
Im 18. und 19. Jahrhundert entstanden im Umkreis Ausserholligens einige Fabriken, so zum Beispiel eine Indienne-Fabrik an der heutigen Effingerstrasse, die später zu einer Giesserei umgebaut wurde. In den 1890er-Jahren wurden die Arbeiter*innen-Haussiedlungen westlich des Steigerhubels von der städtischen Verwaltung errichtet – Bern war damit die erste Schweizer Stadt, die kommunalen Wohnungsbau betrieb. Der Grossteil Ausserholligens blieb allerdings bis zum ersten Weltkrieg unbebaut, das Gebiet wurde vor allem landwirtschaftlich genutzt.
Für einen Grossteil der Menschen aus Bern und Bümpliz gab es kaum Gründe, nach Ausserholligen zu kommen. Eine Ausnahme bildete schon damals das Weyermannshaus-Seelein, zu dieser Zeit noch ein richtiger Tümpel, auf dem im Sommer Boote und im Winter Schlittschuhe tanzten. Zwischen 1908 und 1910 wurde es zu einer Badeanstalt umgebaut.
Erst in der Zwischenkriegszeit und dann während des Baubooms nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden grosse Wohnsiedlungen und Gewerbebauten um die Verkehrsachsen herum. Das änderte jedoch nichts an der Wahrnehmung des Quartiers als einem Durchgangsraum und einer Randregion.
Ein zukünftiges Stadtzentrum
In den 1990er-Jahren änderte sich die Sachlage erstmals: Der Kanton erkannte das Potenzial Ausserholligens – es ist zentral gelegen, die Verkehrsachsen, die das Gebiet trennen, binden es gleichzeitig an den öffentlichen Nah- und Regionalverkehr an und die Gewerbeareale bieten Platz für verdichtetes Bauen. Das Quartier wurde zu einem kantonalen Premium-Entwicklungsschwerpunkt eingestuft. Aber nichts geschah.
Ein Herzstück des neuen Quartiers ist der Bau eines neuen Campus für die Berner Fachhochschule.
«Wir haben damals Witze gerissen, dass es sich hierbei um einen Schwerpunkt ohne Entwicklung handelt», erzählt Thomas Accola und lacht. Immer wieder wurden Ideen zur Umgestaltung des Quartiers gefasst – und verworfen. Nun wird die Entwicklung aber Realität: Dutzende Projekte sind in Planung, drei Milliarden Franken werden in den nächsten zwanzig Jahren von privater und öffentlicher Hand in dieses Areals investiert.
Ein Herzstück des neuen Quartiers ist der Bau eines neuen Campus für die Berner Fachhochschule. Dort werden sich in Zukunft nicht nur die aktuell 20 Standorte der Hochschule konzentrieren, der dreiteilige Gebäudekomplex soll auch zu einem Kulturort mit Musikräumen und Bühnen werden.
Um die zahlreichen Projekte im Quartier Ausserholligen zu ermöglichen, muss die Stadt bedeutende Investitionen in die Infrastruktur des Areals tätigen. Dazu gehören zum Beispiel die Sanierung von Personenunterführungen, die Verlegung und Sanierung von Abwasserleitungen und die Renaturierung des Stadtbachs. Auch der Bau der neuen Verkehrsachse ist Sache der Stadt. Nicht zuletzt beteiligt sie sich auch finanziell an der Verschiebung und dem Neubau der S-Bahn-Haltestelle «Europaplatz Nord». Am 9. Juni stimmt das Stadtberner Stimmvolk über den Infrastrukturkredit für den ESP Ausserholligen ab.
Zwei weitere Bauschwerpunkte entstehen auf dem heutigen ewb/BLS-Areal und dem Areal Weyermannshaus West, das der Post und der Burgergemeinde gehört. Auf beiden heute rein gewerblich genutzten Arealen sollen in Zukunft sowohl Wohn-, Arbeits- wie auch Freizeitmöglichkeiten in Neubauten Platz finden.
Nicht zuletzt wird der Raum unter dem Autobahnviadukt zu einem neuen Begegnungsort ausgebaut. Die Verkehrswege, die heute oft trennend wirken, sollen in Zukunft Verbindung schaffen, Ausserholligen von einem Randgebiet zu einem neuen Zentrum städtischen Lebens werden. «Wir begrüssen die Pläne zur Entwicklung dieses Quartiers sehr», erklärt denn auch Accola. Dass aus einem Unort ein Ort werden soll, das sieht nicht nur der Präsident des QVHF, viele – auch von der Quartierkommission Bümpliz-Bethlehem – sehen das sehr positiv.
Bis es so weit ist, werden noch einige Jahre ins Land gehen. Noch stehen unter dem Autobahnviadukt hohe Lagerregale, noch schläft das «Oldtimerposchi» in der Abstellhalle der Post, noch klettern Sprayer*innen die alten Gaskessel im Weyermannshaus hoch. Nur ein Info-Container auf dem Europaplatz verrät, dass sich Ausserholligen schon bald verändern wird – und das Geräusch von splitterndem Holz, nicht weit davon, in den blühenden, grünen Familiengärten Ladenwandgut. Ein älterer Mann steht auf dem Schrebergartenhäuschen und reisst dunkle Holzbretter vom Dach. Seine Frau grillt Poulet und Peperoni auf dem Gartengrill, die erwachsene Tochter ist ebenfalls da.
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«Bis am ersten September müssen wir weg sein», erklärt sie, «wer sein Häuschen selber abreisst, erhält Geld zurück.» Da sie über den Sommer wegfahren, würden sie sich jetzt schon um die Auflösung ihres kleinen Stückchens Erde kümmern. Für die Sanierung der Schule Stöckacker benötigt die Stadt den unteren Teil der Familiengärten. Diejenigen unterhalb des Kieswegs, der durch die Gärten führt, müssen weichen.
Nach der Bauphase soll dort zwar wieder Grünfläche fürs Quartier zur Verfügung stehen – Schrebergärten wird es aber wahrscheinlich keine mehr geben. «Dieses Haus habe ich vor 24 Jahren gebaut», erklärt der Vater und hält kurz inne, der Schweiss glänzt ihm auf der Stirn. Das Holzbrett wirft er auf die blosse Erde neben dem Häuschen. «Damals habe ich gesagt: Das ist so gut gebaut, das hält hundert Jahre.» Doch hundert Jahre später wird Ausserholligen ganz anders aussehen.