Die Oper als Ereignis auf dem Münsterplatz

von Brigitte Lustenberger 19. August 2014

Die Video-Installation «Krãsis» verwandelt den Berner Münsterplatz in den nächsten Tagen in eine Oper für alle – nach einer Idee von Julie Beauvais und visualisiert von Brigitte Lustenberger.

Vom 21. bis zum 25. August 2014 treffen Passantinnen und Passanten auf dem Münsterplatz auf die visuelle Darstellung von vier Arien des Komponisten Georg Friedrich Händel, die für die vier Temperamente stehen. Mit zur Verfügung gestellten oder eigenen Kopfhörern kann sich das Publikum an vier Hörstationen dem Gesang und der Musik je einer Leidenschaft hingeben: der Melancholie von Sandrine Piau, der Freude von Kristina Hammarström, der Wut von Delphine Galou oder dem Phlegma von Lisandro Abadie.

Romandie trifft Deutsch-Schweiz

Die Idee zu «Krãsis – Opéra Urbain» ist 2011 inmitten der Wolkenkratzer New Yorks entstenden. Die Walliser Opernregisseurin Julie Beauvais arbeitete damals schon länger an einem Konzept, die Oper über eine Video-Installation in den urbanen Raum zu verschieben. Im East Village trifft sie die bildende Künstlerin Brigitte Lustenberger, die mit ihrem Partner Andreas Ryser und dem gemeinsamen Sohn Marlon bei Linda Geiser einen halbjährigen Stipendiatsaufenthalt verbringt.

Neben der Liebe zur Metropole New York entdecken die zwei Schweizerinnen bald einmal die gemeinsame Leidenschaft zum Barock, der im Schaffen von beiden eine grosse Rolle spielt. Beauvais bringt die barocke Welt nicht nur über die Musik in die Gegenwart, sondern auch mit ihren durchdachten, beeindruckenden Inszenierungen, Bühnenbildern und Kostümen. Lustenberger setzt sich über inszenierte Fotografien mit dem barocken Gedankengut und dessen Ästhetik in der heutigen Zeit auseinander.

Krãsis und die «Affetti Barocchi»

Julie Beauvais entwickelt die Grundidee von Krãsis aufgrund der Temperamentenlehre bzw. der «Affetti Barocchi», die der barocken Musik zugrunde liegen. Im barocken Zeitalter ging man davon aus, dass die Musik direkt auf Körper und Psyche der ZuhörerInnen wirkt, wie bei Wein oder den Matrosen, die – alles andere als lebensmüde – dem Gesang der Sirenen erlagen und starben. Barocke Komponisten arbeiteten deshalb eng mit Medizinern zusammen.

Laut der im barocken Zeitalter verbreiteten Temperamenten-Lehre sind bei gesundem Körper und intakter Seele die vier Elemente Feuer, Erde, Wasser, Luft, die den vier Affekten in der barocken Musik entsprechen, ausgeglichen. Dieser Zustand wird als Krãsis (griechische für Mischung) bezeichnet. Der barocke Komponist stellte die Affekte in seiner Musik in überhöhter Weise dar, um diese beim Publikum zu entfachen. Je nach Gemütszustand lässt der Zuhörer oder die Zuhörerin die cholerische, die sanguinische, die melancholische oder die phlegmatische Arie auf sich wirken und bringt so die Temperamente zurück ins Gleichgewicht.

Zusammen mit dem musikalischen Leiter Jean-Philippe Clerc und Brenno Boccadoro, Professor für Musikologie an der Universität Genf, wählte Julie Beauvais vier Arien aus, die die Affekte von vier verschiedenen Temperamenten transportieren. Die ausgewählten Arien stammen alle von Georg Friedrich Händel, und zwar aus dreien seiner Opern: «Vorrei vendicarmi» und «Pensa a chi geme» aus der Oper «Alcina», «Dopo notte» aus der Oper «Ariodante» und «Se pietà» aus «Giulio Cesare».

Wer soll nun die Arien singen? Beauvais, Clerc und Boccadoro sind sich einig, dass es eine Mischung aus Superstars und talentiertem Nachwuchs sein soll. Und das Glück ist auf unserer Seite: Barock-Superstar Sandrine Piau gefällt das Konzept der Verschiebung der Opernmusik in einen anderen Zusammenhang sehr und ist mit im Boot. Die Französin ist eine der ganz grossen Barock-Sopranistinnen der Gegenwart und interpretiert für Krãsis die melancholische Arie. Kurz danach sagt die ebenso bekannte schwedische Mezzo-Sopranistin Kristina Hammarström für die sanguinische Arie zu. Mit Lisandro Abadie für die phlegmatische und Delphine Galou für die cholerische Arie können wir zwei jüngere SängerInnen verpflichten.

Von der Musik zum bewegten Bild

Die einzelnen Arien werden isoliert und aus dem Kontext der eigentlichen Oper losgelöst und interpretiert – ähnlich wie dies bei SängerInnen und KomponistInnen gegen Ende des barocken Zeitalters üblich war – und in ein urbanes öffentliches Umfeld gelegt. Die von uns ausgesuchten Arien sind auch musikalische Höhepunkte innerhalb der jeweiligen Oper. Die Arien wurden meistens für eine ausgewählte Sängerin geschrieben. Diese Sängerin durfte damals die Arie auch abändern bzw. selber interpretieren und in andere Opern einbauen. Wie in barocken Zeiten soll bei Krãsis die Oper nicht nur einer eher vermögenden Schicht vorbehalten, sondern für eine breite Öffentlichkeit zugänglich sein. Diesen Transfer soll eine Film-Projektion ermöglichen.

Dank eines Landis&Gyr-Stipendiums verbringe ich 2013 ein halbes Jahr in Berlin, was mir die Gelegenheit gibt, Locations für die vier Arien zu suchen. Zusammen mit unserer Berliner Dirigentin Kerstin Behnke besuchen wir das Funkhaus Nalepastrasse in Berlin, das vom Architekten Franz Ehrlich gebaute, ehemalige Rundfunkgebäude der DDR. Das Funkhaus ist ein wunderschönes Bauhaus-Gebäude, direkt an der Spree gelegen und bietet uns stimmungsmässig unterschiedlichste Drehorte im gleichen Haus.

Ein live spielendes Barockorchester auf dem Set

Gesangs-Solopartien werden von einem Orchester begleitet, was ein äusserst sensibles Zusammenspiel zwischen Gesang und Musik ist. Über Kerstin Behnke finden wir das Neue Barockorchester Berlin unter der Leitung von Anna Barbara Kastelewicz. Behnke und Kastelewicz finden für jede Aria die passende Zusammenstellung der Instrumente bzw. MusikerInnen, die während den Filmaufnahmen live spielen werden.

Anders als bei Platten- oder CD-Aufnahmen singen unsere vier SängerInnen vor laufender Kamera, d.h. dass der Gesang und die Musik live und nicht erst später im Studio aufgenommen werden. Als wäre dies nicht schon der Herausforderung genug, filmen wir die Arien in einem einzigen Take. Für die SängerInnen bedeutet dies, dass sie die Arie nicht in einzelnen Teilen, sondern von Anfang bis zum Schluss durchsingen müssen.

Am meisten Bauchweh verursacht jedoch die Finanzierung des Projektes. Nur anhand eines schriftlichen Konzepts ist es eine grosse Herausforderung, dieses interdisziplinäre und konzeptionell doch eher anspruchsvolle Projekt zu finanzieren. Ausserdem hat jede Stadt, jeder Kanton, jede Stiftung eigene Gesuchseingabe-Vorlagen, die praktisch nie auf interdisziplinäre Projekte ausgerichtet sind. Ist Krãsis ein Kunst-, ein Film- oder ein Musikprojekt? In welcher Sparte sollen wir warum eingeben? Zweimal müssen wir die Dreharbeiten nach hinten verschieben – doch Anfangs November 2013 ist es dann soweit. Julie, der Tontechniker David Lipka, der wie Beauvais aus dem französisch-sprechenden Teil des Wallis stammt, und ich reisen nach Berlin und treffen unsere Filmcrew, das Barock Orchester und Dirigentin Kerstin Behnke im Funkhaus.

Interdisziplinarität leben

Die SängerInnen kommen nacheinander jeweils für zwei Tage ins Funkhaus. Dann geht es los: Probe mit dem Orchester, Aufbau Licht und Filmset, Anprobe Kostüm, Test Make-Up, Probe vor der Kamera – bis schliesslich «Ça tourne» und «Action» ertönt. Ausser bei einer Location arbeiten wir immer mit Tageslicht, d.h. dass wir nur bis ungefähr 16 Uhr filmen können. Dann geht uns das Licht aus. Die SängerInnen können die Arien nicht mehr als achtmal voll durchsingen, denn Opernsingen ist Hochleistungssport.

Die ganze Crew weiss, dass wir mindestens einen perfekten Take haben müssen, in dem alles stimmt: die Performance der SängerInnen (Gesang und Schauspiel) und des Orchesters, die Falten des Kostüms, die Schattierung des Lidschattens, die Einstellungen der Kamera, die Aufnahmen des Tontechnikers, die sich ständig ändernde Lichtsituation, die Geräuschkulisse.

Unsere Crew umfasst 23 Personen – vom «Fokus Puller» über die Kostüm-Designerinnen bis zum Lautenspieler – Menschen aus der Welt der Musik, der Kunst und des Films. Und jede dieser Welten funktioniert nach eigenen Regeln. Die Filmcrew möchte wegen der prekären Lichtsituation gerne schon Mitte des Vormittags die ersten Tests machen, doch die SängerInnen können wegen der Stimme nicht vor 10 Uhr singen.

Wir haben eine wunderbare Crew und schaffen es, gemeinsam die Unterschiede zu überwinden und das Beste aus allen herauszuholen. Ich glaube behaupten zu können, dass wir alle sehr offen gegenüber den «anderen» Welten, den «anderen» Kompetenzen waren und so zusammen etwas Neues und Spannendes kreiert und Interdisziplinarität gelebt haben.

Die Installation

Nach der Postproduktion des Bildes in Berlin und der Postproduktion des Tons in Lausanne halten Julie und ich endlich die Krãsis-Filme bzw. die Festplatte mit den gespeicherten Daten in der Hand. Wir sind überglücklich, die einzelnen Filme funktionieren auch als Ganzes, als Installation nebeneinander!

Jetzt beginnt die Arbeit an der Planung der Installation vor Ort. Antoine Marchon überzeugt mit seinem Konzept von vier freistehenden Videotürmen, die mitten auf dem Berner Münsterplatz stehen. Das Publikum kann den Film einer einzelnen Arie geniessen oder alle zusammen wie eine riesige, sich bewegende Freske ins Auge fassen. Die Musik und den Gesang erfährt das Publikum über Kopfhörer an extra eingerichteten Hörstationen.

Sieht der Betrachter oder die Betrachterin anfangs vier isolierte Porträts, in denen Individuen einen emotionalen Leidenschaft erleben, fügen sich die vier Inszenierungen bald zu einem sich ergänzenden Quartett zusammen. Unabhängig scheinende Bilder und Gefühle fügen sich zu einem ausgewogenen System und das Publikum erfährt die humanistische Theorie der «Affetti Barocchi» am eigenen Leib. Je nach Gemütszustand lässt der Zuhörer oder die Zuhörerin die cholerische, die sanguinische, die melancholische oder die phlegmatische Arie auf sich wirken und bringt so die eigenen Temperamente zurück ins Gleichgewicht oder die richtige Mischung.