Die Milch der heiligen Kühe

von Dorothe Freiburghaus 2. April 2013

Wildwest-Ikonen, Altchinas grossartige Schreckensherrschaft oder Indiens Wirtschaftsboom stehen zur Wahl. Wir entscheiden uns für die exotischen Farben und Gerüche Indiens.

Im Kunstmuseum Bern wird einzigartige Marlboro-Werbung zu Kunst, oder das Kunstmuseum Bern macht einen Werbefotografen zum Künstler. Im historischen Museum Bern sind die Terracottakrieger von Qin, dem unsterblichen Kaiser, zu bewundern. Mit Macht, Gewalt und Menschenopfern hat er das grosse Reich regiert, ihm zu Wohlstand verholfen, Bücher verbrannt und Gelehrte lebendig begraben. Im Kunstmuseum Thun begegnen wir indischen Kochtöpfen. Die Welt ist klein geworden. Müssen wir uns mit all dem auseinandersetzen? Die Vorstellung Cowboys, chinesischen Kriegern und indischer Küche zu begegnen, berührt mich nicht. Was gehen sie mich, was Bern an? Ein Event mehr? Wozu und für wen? Für ein Publikum, das sich längst nicht mehr bluffen lässt? ein Publikum, das Themen erwarten darf, die es, die uns und unsere Zeit direkt betreffen. Ich zögere und entscheide mich für das Kunstmuseum Thun. Die Direktorin Helen Hirsch ist mir Gewähr für Qualität und – enttäuscht nicht.

Hier riecht es nach Curry und Nelken. Leere Transportsäcke dieser Gewürze liegen auf einem Haufen und erinnern an die uralten Seiden- und Gewürzwege aus Indien in die Welt.

Gleich am Eingang nimmt mich die einfache, alltägliche Welt der indischen Kochgeschirre gefangen. Die Schönheit gebrauchter, alter Pfannen, Töpfe, Bleche, Kessel und Küchenwerkzeuge, wie sie der indische Künstler Subodh Gupta aus seiner Kindheit kennt, sind zu einer Installation zusammengestellt. Sie alle haben eine Geschichte, die wir uns vorstellen können. Bronzene Velos mit glänzenden Milchkannen beladen erzählen vom Velokurier, der die Milch der heiligen Kühe überall hin zu den Menschen bringt. Als «mechanische Kühe», bezeichnet sie der Künstler. Sie sind Symbol für den gesellschaftlichen Wandel. Nicht mehr jede Familie hat eine eigene Kuh. Das kostbare Material weist auf die Kostbarkeit des Inhalts und des Transports.

«A glass of water». Ein Becher bis zum Rand mit Wasser gefüllt, steht auf einem gebrauchten, einfachen Tisch. Störend dazu der Parkettboden des Museums. Ihn hätte man abdecken müssen, um die Situation zu verdichten. Denn, wenn nichts vorhanden war, um dem fremden Gast anzubieten, einen Becher Wasser erhielt er sicher.

Fasziniert stehe ich vor der eindrücklichen Installation «Faith Matters» (Glaubenssache) mit dem indischen Tiffin-Geschirr aus Edelstahl, das an unseren Henkelmann erinnert und von allen Gesellschaftsschichten verwendet wird. Auf Hochglanz poliert und zu Türmen aufgeschichtet, wie eine Stadt mit Strassenschluchten zwischen den Hochhäusern werden Geschirr und Küchenutensilien auf einem Sushiband in endlios-Schlaufen über einen riesigen Chromstahltisch transportiert. Gemäss Begleittext will der Künstler darauf hinweisen, dass heute überall in der Welt indisches Essen erhältlich ist, auch wenn weder der Koch noch der Gast je in Indien waren. Meine Faszination geht aber von der Unzahl von gleichen Behältern mit Essen aus. Mit der unendlichen Bewegung und ständigen Veränderung der Türme, aus immer denselben Geschirren, die sich auf dem Band vor einander schieben, beginnt es vor meinen Augen zu wimmeln. Ich sehe die unzähligen Frauen, die alle dasselbe tun, die kochen und kochen und das fertige Essen in immer dieselben Geschirre anrichten. Am Morgen werden sie mit zur Arbeit genommen, mittags auf langen Wegen zu den Arbeiterinnen und Arbeitern gebracht, treppauf, treppab aufs Feld, in die Fabrik, ins Dorf, in die Städte im ganzen Land – essen, essen. Ich stelle mir vor, dass einer dieser Behälter für mich bestimmt ist. Für mich, die ich ein winziges Rädchen im ganzen System bin, ob hier in Europa oder in Indien. Wie unbedeutend bin ich in der ganzen «Maschinerie». Das Existenzielle des Essens findet in unzähligen Arbeiten des Künstlers Ausdruck.

Die Arbeiten spiegeln den Weg, den Subodh Gupta gegangen ist. Geboren 1964 im Bundesstaat Bihar, in ländlichen, einfachsten Verhältnissen aufgewachsen lebt er heute in der Stadt Delhi. Er setzt sich mit den Traditionen seines Landes auseinander, einem Land, das heute wirtschaftlich und industriell im Aufbruch ist, und in dem langsam das materialistische Denken überhand nimmt. Er gehört zu den bekanntesten indischen Künstlern. 1995 nahm er an der Biennale in Venedig teil.

Eindrücklich ist auch der Video-Zusammenschnitt von Bollywoodfilmen. Subodh Gupta nimmt Sequenzen mit Taschen aus dokumentarischen Szenen über indische Arbeiter in Dubai und reiht sie aneinander. Taschen, Mappen, Säcke, in denen jeder Tagelöhner seine ganze Habe auf der Suche nach seinem Lebensunterhalt, nach Arbeit und Essen mit sich trägt. Die Tasche wird für den Künstler und uns zum Symbol «all things are inside».
Eine erstaunliche Ausstellung, die viele Überraschungen bietet und mit ihren Inhalten lange nachwirkt.