Knapp 50 Personen sitzen auf den farbigen Betonsockeln, stehen in der Schlange vor der Essensausgabe oder spielen Fussball in der Mitte des geteerten Platzes. Abstand halten ist relativ, sie sind auch nicht deswegen gekommen. Viele halten Besteck in der Hand, ein Teller mit Injera auf dem Schoss. Es ist ein ungewohntes Bild im Bern dieser Tage. Von dem Container neben dem Skatepark duftet es nach Essen, der Geruch verweilt in der warmen Frühlingsluft. Von Donnerstag bis Samstag kocht der Verein Medina hier für alle Menschen, die Hunger haben. Jene, die sichs leisten können, geben etwas in die Kollekte. An allen Orten gleichzeitig scheint Dragana umherzuwuseln. Sie bringt einem jungen Mann ein Glas Tee quer über den Platz, weicht einem umherfliegenden Fussball aus und schöpft im nächsten Moment wieder Essen auf einen Teller. Sie hat Medina mitinitiiert, unterdessen engagieren sich etwa zehn Personen in dem Verein, auch heute Abend fehlt es nicht an helfenden Händen.
Auf der anderen Seite der Eisenbahnbrücke liegt der Vorplatz verlassen da, die geschlossenen Tore zum Innenhof und ins Rössli der Reitschule wirken imposant und abweisend. Ein bizarres Bild an einem Wochenende, kurz bevor die Dämmerung hereinbricht. Zum südlichen Ende des Platzes hin stehen die Silos und Container der Schütz-Zwischennutzung. Wie eine Wagenburg kehren sie den Anwesenden den Rücken zu, das Ende der Belebung durch den Verein «Platzkultur» scheint besiegelt, das Konzept verworfen. Sie haben sich die Zähne ausgebissen an Einsprachen aus dem Altenbergquartier und dem neu erstarkten Ruf der Schütz als unsicherer, krimineller Ort. Jetzt in Zeiten des Lockdowns ist nur Medina hier und damit die Menschen, die etwas Gemeinschaft, etwas Ablenkung oder einfach etwas zu Essen suchen.
«Es ist ein Elend», wird Dragana später in nüchternem Ton sagen. Doch vorerst treffe ich neben dem Container auf Rosy. Sie zeigt mir ihren Stammplatz, das purpurne Betonoval ein paar Meter weiter weg. «Seit 20 Jahren lebe ich in der Schweiz, letzten Monat wollte ich zurück nach Kenya, um meiner Familie zu helfen.» Ihre Mutter sei blind, die Schwester habe eine Behinderung und der Bruder sitze nach einem Unfall im Rollstuhl. Doch Rosy konnte nicht hinfliegen, die Pandemie durchkreuzte ihre Pläne. Ihren Job hatte sie bereits gekündigt, die Pensionskasse wollte sie auflösen und mit dem Geld die Familie unterstüzen. «Letzte Woche habe ich Dragana getroffen und sie meinte, wenn ich ausreise könnte ich nicht mehr in die Schweiz zurückkehren», erklärt Rosy.
Seit April sei sie häufig am Abend auf der Schütz, anfangs sass sie alleine hier, kannte niemanden, freute sich aber über die lose Gemeinschaft von Menschen, die hier anzutreffen ist. Die Leute von Medina hätten sie daraufhin mal angesprochen und eingeladen, mitzumachen. «Heute Abend habe ich in der Küche geholfen», sagt Rosy, «am nächsten Samstag werde ich hier ein kenyanisches Abendessen zubereiten.» Ihrer Familie schickt sie Geld, damit sie sich Hygienemasken kaufen können und zeigt ihnen, wie sie sich die Hände desinfizieren sollen. «Der Druck auf mich ist gross», erklärt sie und schweigt für ein paar Sekunden. «Was ist, wenn ich nicht mehr lebe? Wer hilft ihnen dann?» Sie zieht ihr Handy aus der Tasche, es ist ausgeschaltet. Wenigstens hier, in den Abendstunden auf der Schütz, braucht sie etwas Ruhe von den Anrufen ihrer Verwandten.
«Zwei Meter, zwei Meter!» Ein Ruf schallt über den Platz und die meisten Menschengruppen positionieren sich ein bisschen lockerer. Der blaue Polizeiwagen fährt auf die Schütz und im Schritttempo die gelb markierte Rettungsgasse entlang, die den Platz längs durchmisst. Argwöhnische Blicke hinter die halb geöffneten Scheiben und kritisch inspizierende von dort heraus. Für einen kurzen Moment wird es etwas stiller in der grossen Runde, doch das fremd wirkende Objekt verschwindet, so langsam wie es herkam.
Mittlerweile hat die Dämmerung die Schütz fest im dunkelblauen Griff und Dragana etwas Ruhe, zwischen all den Gesprächen auf Deutsch oder Englisch hier und dort. Sie kennt den Platz so gut wie wenige andere. 2018 war sie Platzwartin beim Neustadtlab, danach bei Platzkultur. Sie lässt den Blick rundum wandern und meint: «Die Lage ist schlimm im Moment, viele Leute sind nach negativen Asylentscheiden auf der Strasse gelandet und durch Corona sind viele soziale Angebote gekürzt worden oder ganz verschwunden.» Anfang März gründete sich Medina als Verein, kurz vor dem Lockdown. Seither hat Medina die Präsenz erhöht und bietet an drei Abenden pro Woche Essen an. Gekocht wurde in der Küche des Sous le Pont, da dieses jetzt aber wieder öffnen darf, soll nun draussen beim Container eine Aussenküche entstehen.
Der Verein finanzierte sich bislang hauptsächlich aus den Einnahmen einer Solidaritätsparty im Oktober. «Dieses Geld hat bis April gereicht, wir haben dann einen Spendenaufruf gestartet und sowohl von Privatpersonen als auch von Organisationen Geld und Gutscheine erhalten», erklärt Dragana. Die Mittel genügten für das Essen, aber nicht um Probleme nachhaltig zu lösen. Ein Tropfen auf den immer wärmer werdenden Teer der Schützenmatte. Viele Leute seien traumatisiert und hätten psychische Probleme, sagt Dragana. Nebst der Essensausgabe bieten die Freiwilligen von Medina auch Deutschunterricht an, helfen Bewerbungen zu schreiben, organisieren Schlafplätze und stehen mit Rat zur Seite, wenn der Umgang mit Behörden sich mal schwierig gestaltet.
Es geht gegen zehn Uhr und langsam lösen sich einige Gruppen auf, ein paar Leute zieht‘s weiter oder nach Hause. Doch längst nicht alle. Auch Dragana ist noch gefragt, ein junger Mann verabschiedet sich von ihr. «If you don’t find a place to sleep, come to us, okay?» meint sie noch zu ihm, als er wegläuft. Ein Wagen mit Blaulicht fährt an der Schütz vorbei und wir schauen ihm instinktiv kurz nach. «Unsere Arbeit wird offenbar toleriert», sagt Dragana und zuckt mit den Achseln, «von Donnerstag bis Samstag lässt uns die Polizei meist in Ruhe.» An den Tagen, an denen Medina nicht auf dem Platz ist, sähe es anders aus. «Dann ist hier Hexenjagd.»
Vorerst bleibt Medina da, wird weiter Essen kochen und versuchen, den Platz nicht sich selbst zu überlassen. Was aus der Schützenmatte, dieser weitläufigen Insel in Berns Brandung geschieht, ist unklar. Stadtpräsident Alec von Graffenried sprach zuletzt von einer sportlichen Nutzung und längerfristig von Atelier- und Gastrobauten am Westende. «Wir wollen in den Gestaltungsprozess mit einbezogen werden», betont Dragana und wird etwas lauter, «all die Menschen hier sollen mitreden können, wenn es darum geht, was auf der Schütz passiert.» Klar sei für sie, dass es eine Art Sozialarbeit auf dem Platz brauche und nicht eine kommerzielle Nutzung. «Die Leute hier werden nicht einfach so verschwinden. Auch nicht, wenn sie verhaftet werden, dann kommen neue.»