Ich bin im Jahr 1971 im Kosovo zur Welt gekommen und lebte bis zu meinem 18. Lebensjahr in einem kleinen Dorf mit rund tausend Bewohner*innen. Die Strassen waren nicht asphaltiert, es gab keine Wasserversorgung, jedes Haus hatte seinen eigenen Ziehbrunnen. Licht machten wir meistens mit einer Gaslampe. Unsere Häuser waren klein und einstöckig, hauptsächlich aus Lehm und mit Ziegeldächern. Wir waren Selbstversorger*innen, Autos sahen wir selten und nicht jede Familie besass einen Radio oder einen Fernseher. Eine Grundschule gab es zwar in fast jedem Dorf, aber für einen Arztbesuch mussten alle Bewohner*innen aus siebzig Dörfern in ein kleines Spital in die Stadt. Einen Zug sah ich im Kosovo nie. Nur Flugzeuge. Aber diese flogen so hoch oben, dass sie fast unsichtbar blieben.
Mit diesem Bild der Welt kam ich im Frühsommer 1989 in die Schweiz. Und erlebte einen Schock. In meinem Buch «Bleibende Spuren» schrieb ich: «Als ich draussen die frische Luft einatmete und mich umschaute, kam es mir vor, als wären wir auf einem anderen Planeten gelandet. Der Park und die ganze Umgebung waren so sauber und gepflegt, die Bäume und Sträucher exakt zurechtgeschnitten und die sattgrünen Wiesen wirkten wie ein Teppich. Ja sogar die Strassen waren perfekt asphaltiert und sauber. Und hübsche Gehwege gab es auch. Himmel war das toll!»
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Die Begeisterung über diese Schönheit verwandelte sich aber bald in grossen Kummer: Ich merkte, dass ich mit den Leuten kein einziges Wort sprechen konnte.
Ich hatte nicht den Mut auf die Leute zuzugehen, weil ich ihre Sprache nicht kannte. Sie waren für mich fremd, wie sicherlich auch ich für sie fremd war. Ich fühlte mich einsam, minderwertig und war verzweifelt, weil ich mich mit den Menschen nicht unterhalten konnte. Damals fragte ich mich oft, ob es sich gelohnt hatte, aus meiner Heimat zu fliehen.
Die Macht des Wortes ist gross! Sie ist eine Brücke zwischen Menschen. Ich wusste, ich muss die Landessprache lernen. Erst dann könnte ich hoffen, die Einsamkeit zu überwinden und mich hier nicht mehr fremd zu fühlen. Dieser Schritt war schwer, denn die Schweiz machte es mir nicht einfach. Die Menschen waren verschlossen. Ausserdem sprachen sie eine eine Sprache, die ich nirgends auf dem Papier antraf.
Meine Ohren waren überall offen: am Arbeitsplatz, in der Öffentlichkeit oder in meinem Zimmer beim Radiohören. Viele Wörter verstand ich nicht oder sie ergaben keinen Sinn. Ich wusste zum Beispiel lange nicht, was «uffwideluege» heisst. War das ein religiöser Gruss? Ich zog dann jeweils mein kleines Notizbuch aus meiner Tasche und versuchte, das Wort aufzuschreiben, damit ich es später nachschlagen konnte. Oft konnte ich aber keine Übersetzung finden, weil ich die Worte phonetisch aufgeschrieben hatte. Gleich ging es mir mit dem Wort «schaffe» und «Schaft». Hatten sie etwas zu tun mit den Schafen draussen auf dem Feld? Und was meinten die Menschen mit «gränne», «fäge», «häbe». Ich war irritiert. Trotzdem machte ich langsam Fortschritte mit dieser «saublöden Hühnersprache» (Zitat aus meinem Buch «Bleibende Spuren»).
Da es an Unterstützung durch Hilfsorganisationen fehlte, musste ich selbst aktiv bleiben und Initiative zeigen – beim Spracherwerb, bei der Arbeitssuche, bei der Integration. Aber da waren zum Glück auch immer Menschen, die mir halfen: Arbeitskolleg*innen, die langsam mit mir sprachen, Nachbar*innen, die mir Bücher zum Lesen gaben oder Freund*innen, mit denen ich Briefe austauschte.
Die Sprache zu lernen ist nicht nur der Schlüssel zur Integration, sondern auch das beste Mittel gegen Einsamkeit und Fremdsein. Erst als ich mit den Leuten kommunizieren konnte, als ich lesen und schreiben gelernt hatte, konnte ich am Leben aktiv teilnehmen. Ich konnte meinen Pflichten nachkommen, aber auch meine Rechte einfordern.
Die Sprache hat mir die Türen geöffnet, damit ich Teil dieser Gesellschaft werden konnte. Sie machte mich selbstständig, unabhängig und half mir, Schritt für Schritt eine vollwertige Bürgerin dieses Landes zu werden.