Die Macht der bewegten Bilder im Münster

von Dorothe Freiburghaus 1. Juli 2014

Im Berner Münster wird das Werk des berühmten amerikanischen Videokünstlers Viola vorgestellt. Es ist ein emotionales Werk, das viele Fragen aufwirft. Eine persönliche Sicht auf die Ausstellung.

«Hast du sie gesehen? Im Münster soll eine nackte Frau ausgestellt sein?» Ein älterer Herr im blauen Anzug erkundigt sich. Ja, ich habe die Videos gesehen – und sie haben bei mir gemischte Gefühle hinterlassen. Nicht weil sie im Münster gezeigt werden, aber die Art der Darstellung hat mir zu schaffen gemacht, mich innerlich aufgebracht.

Nicht nur eine nackte Frau, auch ein nackter Mann ist da. Allerdings werden von beiden nur ihre Leiber in schattiger Andeutung sichtbar. Aus grauem Bildgrund sprudelt Wasser. Die Akteure waschen ihre Hände unter dem Strahl. Die Hände und Finger bewegen sich, sie verflechten sich ineinander, bilden eine Schale, um das Wasser aufzufangen. Alles geschieht sehr langsam, was das Geschehen als bewussten Akt erscheinen lässt.

Bill Viola arbeitet mit einer Hochgeschwindigkeitskamera und lässt die Aufnahmen in der Slow-Motion-Technik (ein Ereignis von Sekunden kann mehrere Minuten dauern) abspielen. Das beschriebene, gedehnte Prozedere am Eingang des Münsters erinnert nicht nur an eine Waschung, eine Reinigung. Durch das sanfte Ineinanderlegen, Wenden und Drehen der Hände, kippt das Tun für mich plötzlich in das Bild der Hände reibenden Unschuldsgeste: «Ich weiss von nichts, bin unschuldig.»

Im Chor des Münsters kommen uns auf schmalem Videobildschirm schemenhaft drei Frauen entgegen, «Three Women», rätselhaft schwebend, in dünner Kleidung. Sie reichen sich die Hände. Unruhig flackerndes Licht am unteren Bildrand zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich. Aus der Mitte der Stirn sprudelt bei einer Frau Wasser wie eine aufbrechende Quelle und ergiesst sich über den ganzen Körper, der jetzt real sichtbar wird. Die Frau befindet sich in einem Zustand höchster Emotionalität, gefangen in ekstatischer Hingabe. Die Slow-Motion des Geschehens gibt uns Zeit – oder zwingt uns –, den Bewegungen der Gestalten zu folgen. Hautnah erleben wir das Geschehen mit.

Je länger ich hinsehe, desto mehr fühle ich mich als unfreiwillige Zeugin einer zur Schau gestellten Erleuchtung. Die Abfolge der Bilder der emotionalen Hingabe an etwas Unfassbares löst in mir Ablehnung aus. Mit einer Handberührung gibt die erste Person das Erlebnis an die zweite und dritte Peson weiter. Nach deren Transformation drehen sich die Figuren wieder von uns fort und verschwinden schemenhaft im Bildgrund.

Bill Viola hat mit dem Medium Video und seinen neuen Möglichkeiten von Bewegung und Slow-Motion viele Kirchen bespielt. Oft hat er Legenden bearbeitet, die in der Renaissance in einem Bild einen Ausdruck fanden. Ganz offensichtlich wird das in der Arbeit «Emergence», der Erscheinung. Analog der gemalten Pieta von Masolino da Paniale setzt er die Figuren in lebende Gestalten um. Diese spielen das Geschehen nach, so wie es in der Vorstellung des Künstlers aussieht.

Die gemalte Pieta entspricht gleichsam einem Video-Still. Das Vorher und das Nachher des festgehaltenen Augenblicks sind dem Betrachter überlassen. Er entwickelt sie selbst. Dagegen formuliert uns Bill Viola eine ganze Abfolge von Bildern, eine Geschichte, der wir gespannt folgen.

Ich erinnere mich an eine frühe Begegnung mit der Bilderfülle des Lettners in der Kirche Santa Maria delle Grazie ausserhalb von Bellinzona. Ich war begeistert von der Bilderfülle und bedauerte damals, nicht katholisch zu sein und die Geschichten alle lesen zu können, umso mehr habe ich aber das Vorher und das Nachher der ausgedrückten Situation selbst entwickelt. Das Nicht-Wissen kann die Vorstellungskraft anregen.

Wo liegt die Macht eines einzelnen Bilds, wo jene der bewegten Bilder? Hier symbolhaft eine einzige Szene, aus der das Vorher und Nachher entwickelt werden kann oder muss. Sie bietet Freiraum zur Interpretation. Da die bewegten Bilder, die eine fertige Geschichte liefern, die ebenso Anlass zu Fragen geben.

Mit dem Bildersturm zur Zeit der Reformation wurden in Bern die Heiligenstatuen neben dem Münster in die Aufschüttung versenkt. Die Bilder verschwanden. Jetzt erscheint mitten im sakralen Raum der Apsis unter den hohen, leuchtenden Glasfenstern wieder ein Bild, ein bewegtes, farbiges Bild: Auf einem schmalen Flachbildschirm drängen Menschen hintereinander nach vorne, um entsetzt, erschrocken, mitfühlend, traurig in immer dieselbe Richtung auf ein Geschehen, das unseren Blicken entzogen ist, zu schauen. Mit minimalen Mitteln realisiert der Künstler hier einen überwältigenden Ausdruck von Leid und Mitleiden.

Das emotionale, eindrückliche Werk von Bill Viola, das gegenwärtig im Münster gezeigt wird, wirft viele Fragen auf. Leben und Tod sind die Themen des Künstlers, aussen und innen.