Natalie kämpft sich regelmässig von der Länggasse zur Nydeggasse, schlängelt sich durch Lieferwagen und Busse. Monica ist erleichtert, wenn sie unfallfrei den Eigerplatz überwunden hat und Roger rauft sich regelmässig die Haare, wenn er vom Waisenhausplatz zum Bundesplatz möchte. Was wäre noch gleich die Idealroute? Das sind einige Velo-Erfahrungen von «Hauptstadt»-Leser*innen. Eine rekordverdächtige Anzahl von 28 Leser*innen hat sich auf den Newsletter-Aufruf zum Thema Veloverkehr gemeldet. Sie alle haben ihre Perspektiven, Beobachtungen und Hoffnungen zum Velostandort Bern geteilt.
Nadelöhr Innenstadt
Die Zweirad-Aktivität der «Hauptstadt»-Abonnent*innen passt ins grössere Bild des Veloverkehrs in der Stadt Bern: Dieser nahm zwischen 2015 und 2021 von 15 auf 19 Prozent des Gesamtverkehrs zu. Damit wird das vom Berner Gemeinderat ursprünglich ausgegebene Ziel, den Veloanteil auf 20 Prozent bis im Jahr 2030 zu steigern, bereits fast erreicht.
Ist Bern damit Velohauptstadt und alles in bester Ordnung? Das kommt wie so häufig auf die Massstäbe an. Vergleicht sich die Bundesstadt mit Winterthur, St. Gallen und Zürich, hat sie für ihre Velofahrenden schon einiges richtig gemacht. Seit 2016 sind Velohauptrouten entstanden, Parkplätze wurden in Velostreifen umgewandelt und Bushaltestellen bekamen Umfahrungen für Zweiradler*innen.
Doch vor allem im Innenstadtgebiet, welches bei querenden Fahrten von Ost nach West und Nord nach Süd ungemein wichtig ist, bleibt Nachholbedarf. Vor allem, was Sicherheit und Orientierung für Velofahrende anbelangt. Das geht auch aus den Rückmeldungen der «Hauptstadt»-Leser*innen hervor. Anlass für einen kritischen Rundgang mit Michael Liebi von der städtischen Fachstelle für Fuss- und Veloverkehr.
Engstellen und unklare Routen
Die Sonne bricht durch die Wolken am Helvetiaplatz – der Asphalt wird in gleissendes Licht getaucht. Michael Liebi ist jemand, der trotzdem den Durchblick behält – zumindest in Mobilitätsfragen. Nur wenige Menschen in Bern kennen das städtische Velonetz so gut wie er. Er weiss, wo zuletzt gelbe Streifen auf den Asphalt gemalt wurden und wo es grössere Eingriffe bräuchte.
Ein Beispiel ist der Helvetiaplatz, wo Liebi an diesem Tag mit seinem Cargovelo wartet. Das sei ein «Hotspot», was Negativmeldungen von Velofahrenden und Zufussgehenden betreffe, erklärt er.
Eine enge Stelle zwischen Tramschiene und Perronkante: das mache den Fahrradfahrer*innen das Leben schwer. Alternativ sei zwar eine Umfahrung der Tramhaltestelle auf einer gemeinsamen Fläche mit vielen Passanten der umliegenden Museen möglich.
Aber beide Varianten bergen Konfliktpotential. Experte Liebi spricht dabei von «Mischflächen». Sie gehören laut ihm möglichst aufgehoben, so wie das in Kopenhagen, Amsterdam oder auch Paris bereits der Fall ist. Bis das am Helvetiaplatz Realität wird, dauert es aber noch.
Derzeit befinde man sich im Bereich der Vorstudie für einen velofreundlichen Helvetiaplatz, so Liebi. Wenn nicht nur neue Streifen aufgemalt werden sollen, sondern grössere bauliche Veränderungen nötig sind, reden mehrere Ämter mit. Später sind dann noch Einsprachen möglich. Ein langes Prozedere – der zähe Alltag des Verkehrsplaners.
Es geht und ginge doch besser
Abfahrt vom Helvetiaplatz in Richtung Innenstadt: Eine alltägliche Route für viele Menschen, die im Südosten Berns wohnen. Meist startet ihre Velofahrt vom Burgernzielkreisel oder Thunplatz über die Jungfrau- und Marienstrasse – ein schwieriges Terrain: Viele Pendler in ihren Autos, kleine oder keine Velostreifen und eine unübersichtliche Verkehrsführung. Ist dann endlich der Helvetiaplatz erreicht, und die Kirchenfeldbrücke überquert, muss man sich auf sein Improvisationstalent verlassen.
Denn: Wer vom Casinoplatz weiter zu Kornhausbrücke möchte, finde keine wirkliche «Alltagsroute» vor, sagt Verkehrsplaner Liebi. Sprich: Jeder und jede muss täglich aufs Neue einen Idealweg für sich finden. Hinzu kommt: Eine einheitliche Beschilderung für die städtischen Velohauptrouten ist zwar in Planung, aber eben noch nicht umgesetzt. So gibt es momentan nur die Signalisation von überregionalen Velofreizeitrouten, welche einem helfen, wenn man vom Lötschberg an den Bielersee fährt. Die aber nicht dienlich sind, wenn man vom Helvetiaplatz zur Schwimmhalle Neufeld will.
Und so folgen wir an diesem Nachmittag dem Veloexperten Liebi übers Kopfsteinpflaster zum Touristenmagneten Zytglogge. Den Busverkehr abwartend, schlängeln wir uns durch den Lieferverkehr und biegen von der Rathausgasse auf den Kornhausplatz. Da wartet gleich die nächste Herausforderung: Eine Tramschiene und gleichzeitig eine Busspur stellen sich den Velofahrenden als potentielles Hindernis in den Weg. Im kommenden Jahr will die Fachstelle an diesem Punkt die Verkehrssicherheit prüfen. Eine vollkommen neue Verkehrsführung rund um den Kornhausplatz sei aber nicht in Planung.
Natürlich ist Bern mit seiner historischen Altstadt und dem Weltkulturerb-Status kein einfaches Pflaster für Velo-Planer*innen. Dass es bei gleichen Voraussetzungen trotzdem möglich sei, stärker auf die Bedürfnisse von Zweiradfahrer*innen einzugehen, stelle allerdings Amsterdam unter Beweis, so Michael Liebi.
Velorouten für 8- bis 80-Jährige?
Von holländischen Verhältnissen ist Bern aber noch fern. Das zeigt die weitere Fahrt mit dem Velo vom Kornhausplatz zum Bahnhof. Es ist höchste Konzentration gefragt, wenn es durch die Nägeli- weiter in Richtung Speichergasse geht. Nicht nur lauert an Taxi-Stellplätzen ständig die Gefahr, dass eine Autotür die Weiterfahrt abrupt beendet. Ab der Speichergasse verläuft der Velostreifen in einer Einbahn-Strasse für Autos – nur keine falsche Bewegung also.
Anschliessend muss in einem Zick-Zack-Kurs über Genfer- und Aarbergergasse der Bahnhof angefahren werden – auch hier machen Taxis und die beliebte Einkaufs-, Pendler- und Ausgehmeile das Velofahren zu keinem leichten Unterfangen. Es wird deutlich: Velofahren ist in diesen Bereichen definitiv eine Tätigkeit, die geübt sein will. Und es darf bezweifelt werden, ob die im Masterplan Veloinfrastruktur ausgegebene Losung, Velowege für «Menschen von 8 bis 80» zu bauen, dort schon eingelöst wird.
Weiter geht es in eine der sogenannten Netzlücken der Velohaupstadt. Diese befindet sich ausgerechnet im vielbefahrenen Bahnhofsbereich bis Bubenbergplatz und Hirschengraben. Wer mit dem Fahrrad von Bahnhof in Richtung Bundesplatz möchte, muss über den Hirschengraben fahren, weil vorher nicht gequert werden darf.
Der Hirschengraben: ein neuralgischer Verkehrsknotenpunkt, der es mit der laufenden Bahnhofsanierung auch auf Jahre hin bleiben wird. Geplant sind bei der Neugestaltung des Bahnhofsbereichs immerhin breitere Velostreifen – sie werden aber erst bis 2035 realisiert sein. Die Interessenorganisiation Pro Velo Bern geht zudem davon aus, dass Netzlücken am Bahnhof auch dann noch nicht beseitigt sein werden.
Mut zur Lücke?
Leserin Lea fährt häufig von der Länggasse in Richtung Bundesplatz und zu den Museen am Helvetiaplatz, wie sie der «Hauptstadt» mitteilte. Sie kommt also vom Bahnhof und der Welle 7 mit Schwung hinunter zum Hirschengraben gefahren. Wie geht es von dort weiter?
Dazu Veloexperte Liebi: Die Route zum Bundesplatz führt über den Bubenbergplatz in Richtung Loeb-Egge und weiter in die Schauplatzgasse. Diese ist allerdings für den motorisierten Verkehr eine Einbahnstrasse, in die man sich als Velofahrer*in begeben muss, um zum Bundesplatz zu gelangen.
Die andere Variante: Lea fährt von der Welle 7 kommend weiter den Hirschengraben hinunter und steigt dann ab, um den Zebrastreifen gegenüber des Mobiliar-Hauptsitzes zu nehmen, und sich dann wieder auf den Veloweg der Bundesgasse einzufädeln. Kompliziert und aufreibend.
In Bern sei eine abgetrennte Infrastruktur aktuell noch eine «seltene Ausnahme», sagt Michael Sutter. Er ist Präsident von Pro Velo Bern und SP-Stadtrat. Zwar gebe es mit der Lorrainebrücke stadtauswärts und zwei kurzen Abschnitten an der Murtenstrasse Ansätze, die in diese Richtung weisen, aber das könne nur der Anfang sein.
Überhaupt ist an der Kreuzung am Hirschengraben von Velofahrenden ein klarer Kopf und gleichzeitig viel Geduld gefragt. Trams kreuzen sich, Autos sind unterwegs, Menschen überqueren die Zebrastreifen. Experte Liebi erklärt die verschiedenen Abbiegeoptionen und Einordnungsmöglichkeiten für Velofahrende, Wabern hier, Loryplatz dort – eine Nachhilfestunde, selbst für geübte Radfahrende.
Eine Veloinfrastruktur auf der Höhe der Zeit kann auch dabei helfen, das geltende Klimaschutzreglement der Stadt Bern zu befolgen. Es ist erst im September letzten Jahres in Kraft getreten. Darin ist zum Beispiel festgeschrieben, dass die Treibhausgasemissionen in der Mobilität bis 2041 massiv sinken müssen. Das Velo als emissionsfreies Vehikel kann dazu beitragen.
Zumindest kündigt die städtische Verkehrsplanung neue breite Radstreifen auf der Effingerstrasse für nächstes Jahr an. Auf der Seilerstrasse soll zudem durchgehender Velogegenverkehr möglich sein. Die Stadt denkt und arbeitet bei der Veloinfrastruktur in Modulen, die nach und nach abgearbeitet werden.
Farbe ist keine Infrastruktur
Amsterdam, Kopenhagen, Paris. Diese Städtenamen fallen beim Rundgang häufig. Diesen Metropolen ist es an vielen Stellen gelungen, eine baulich abgetrennte und zusammenhängende Veloinfrastruktur zu errichten. Sie haben nicht bloss mit dem Farbpinsel neue Streifen auf den Asphalt gemalt. Stichwort: «Paint is no infrastructure», zu Deutsch: Farbe ersetzt keine Infrastruktur.
Sutter stellt fest, dass die «Velooffensive» der Stadt in letzter Zeit an Schwung verloren hat. Er fordert, dass Bern als rot-grüne Stadt wieder mehr fürs Velo tue, um dem Ziel eines durchgehenden Velohauptroutennetz wirklich näher zu kommen.
Generationenprojekt
Eine Schwierigkeit bei der Planung von Radinfrastruktur: Von der Konzeption über die Ausführung und die Befahrung verstreicht viel Zeit – da können Standards schon wieder überholt sein.
Was das konkret bedeutet, erklärt Velofachmann Liebi. Die Fahrt geht weiter zum Kreisverkehr am Eigerplatz. Seit Jahren als verkehrsplanerisches Allheilmittel gepriesen, haben sich Verkehrskreisel für Velofahrende in der Zwischenzeit als wenig hilfreich herausgestellt. Das Einfädeln werde als schwierig wahrgenommen und den Zweiradfahrer*innen fehle das Sicherheitsgefühl, so Liebi. Im Fall des Eigerplatzes seien zwar zwei sogenannte Bypässe errichtet worden, also gesonderte Spuren für Velofahrende. Trotz dieser Abtrennung rauschen an diesem Novembernachmittag Camions von der Seftigenstrasse hinab in Richtung Eigerplatz. Dicht vorbei an Velofahrenden in Warnwesten.
Auch der erst kürzlich neugestaltete Viktoriaplatz im Breitenrain würde aus Velosicht heute nicht mehr so geplant, sagt Liebi – aus den beim Eigerplatz genannten Gründen. Und dann ist da noch die Verbreitung der E-Bikes, die schneller voran ging, als so mancher Planer dies vor zehn Jahren vorhersagen konnte: Veloinfrastruktur muss demnach für ganz unterschiedliche Geschwindigkeiten im Zweiradverkehr ausgelegt sein. Kein leichtes Unterfangen – die velofreundliche Stadt sei eben ein «Generationenprojekt», sagt Michael Liebi.