Kanton will alle Entscheide anfechten

von Yannic Schmezer 28. Juli 2021

Im Streit um den Grundbedarf der Sozialhilfe bei vorläufig aufgenommenen Personen beschränkt das Verwaltungsgericht das Verfahren und verwehrt dem Kanton vorerst die Akteneinsicht. Derweil heisst der Regierungsstatthalter weitere Beschwerden gut. Nicht alle wurden vom Kanton angefochten.

Der Streit um die Sozialhilfe geht weiter: Nachdem im Mai der Regierungsstatthalter Christoph Lerch die Beschwerde einer vorläufig aufgenommenen Familie guthiess, der mit Verweis auf eine kantonale Verordnung der Grundbedarf der Sozialhilfe um 30% gekürzt worden war, beurteilt nun das Verwaltungsgericht eine Beschwerde der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion des Kantons Bern (GSI).

Ob es aber überhaupt zu einer materiellrechtlichen Beurteilung kommen wird, ist alles andere als gesetzt. Standen bei Lerchs Entscheid inhaltliche Aspekte im Vordergrund, dürften es beim Urteil des Verwaltungsgerichts gerade solche formeller Natur sein, denn: Noch ist unklar, ob die GSI überhaupt legitimiert ist, den Entscheid des Regierungsstatthalters beim Verwaltungsgericht anzufechten. Der Kanton Bern war nämlich am vorinstanzlichen Verfahren überhaupt nicht beteiligt, was aber in der Regel vorausgesetzt wird.

Nur ausnahmsweise legitimiert

Wie jetzt aus einer prozessleitenden Verfügung des Verwaltungsgerichts, welche Journal B vorliegt, hervorgeht, wird das Verfahren vorerst alleine auf die Frage der Beschwerdelegitimation beschränkt. Dabei erwägt das Verwaltungsgericht insbesondere, «dass der Kanton in der Tat nur ausnahmsweise legitimiert ist, Rechtsmittelentscheide eigener Verwaltungsjustizbehörden anzufechten». Dies dürfte die Beschwerdegegner*innen freuen, bedeutet es doch immerhin, dass dem Verwaltungsgericht die ausserordentliche Situation bewusst ist und inhaltliche Überlegungen bis auf Weiteres hinten angestellt werden.

Ausserdem stellt das Gericht fest, dass der Kanton nur dann Einsicht in die Akten der Vorinstanz nehmen kann, sollte er zur Beschwerde legitimiert sein. Vorerst kämpft der von Pierre-Alain Schnegg engagierte Parteikollege und Anwalt Patrick Freudiger also mit verbundenen Augen.

Weitere Beschwerden gutgeheissen

Ein Urteil des Verwaltungsgerichts ist erst in einigen Monaten zu erwarten. Gleichzeitig mehren sich die Beschwerden gegen Kürzungen des Grundbedarfs bei den Regierungsstatthalterämtern. Gemäss dem «Bund» sind alleine im Verwaltungskreis Bern bereits 50 Beschwerden in der Sache eingegangen. Journal B weiss von zwei solchen, die vom Regierungsstatthalter bereits gutgeheissen wurden und in Rechtskraft erwachsen sind. Gegen diese hat der Kanton keine Beschwerde beim Verwaltungsgericht erhoben.

Auf Anfrage erklärt Gundekar Giebel, Mediensprecher der GSI, man habe alle Entscheide der Regierungsstatthalter, von denen man Kenntnis habe, beim Verwaltungsgericht angefochten. Er schliesst aber nicht aus, dass diese Kenntnis nicht vollständig ist. Da die GSI in den Verfahren um Sozialhilfebeiträge im Gegensatz zu den Sozialdiensten jeweils nicht Partei ist, werden ihr die Entscheide der Regierungsstatthalterämter auch nicht eröffnet. «Die GSI hat nur indirekt Informationen über potenzielle Entscheide, zum Beispiel über die Medien oder über die freiwillige Meldung der Regierungsstatthalterämter», so Giebel. Die Gefahr einer Ungleichbehandlung der Betroffenen sieht Giebel bei den aktuellen Wirrungen um den Grundbedarf der Sozialhilfe nicht: «Bei allen Entscheiden der Regierungsstatthalter handelt es sich um Einzelentscheide in einem konkreten Fall, der über die zu zahlende Sozialhilfe für andere Personen beziehungsweise in anderen Fällen nichts aussagt.»