Die grosse Überwältigung

von Christoph Reichenau 29. Oktober 2019

«bauhaus imaginista» heisst die Ausstellung im Zentrum Paul Klee, die der globalen Rezeption der Schule nachspürt, die zwischen 1919 und 1933 in Deutschland Kunst und Handwerk neu verbinden wollte. Das Bauhaus war Teil einer Bewegung, der es an mehreren Orten der Welt um die Überwindung des jeweiligen Kanons ging.

Der grosse Raum im mittleren Hügel des Zentrums Paul Klee (ZPK) ist umgebaut, Bausteine aus Zement, grobe Bretter, dann wieder filigrane Elemente und Stellwände gliedern ihn vielfältig und auch ein wenig unübersichtlich. Hinter jeder Wand öffnet sich eine neue Welt. Und wer vom Bauhaus einiges zu kennen meint, wird stets neu überrascht.

«bauhaus imaginista»? Für mich heisst dies: Das Bauhaus, das anregt. «Imaginiste» anstatt «imaginaire». So hiess die vom dänischen Künstler Asger Jorn (1914-1972) gegen Max Bill (damals Leiter der Hochschule für Gestaltung in Ulm, die sich als Bauhaus-Nachfolgern verstand) Bewegung: «Mouvement pour un Bauhaus imaginiste contre un Bauhaus imaginaire». Das Mouvement hat allerdings keinen Bezug zur jetzigen Ausstellung.

Nicht nur das Bauhaus

Das Bauhaus – 1919 in Weimar gegründet, ab 1923 in Dessau weitergeführt und 1933 in seiner letzten Station in Berlin von den Nazis geschlossen – gilt als deutsche Erfindung. Die verjagten Meister und Schüler (darunter Paul Klee) trugen die Ideen und Erfahrungen des Bauhauses in die ganze Welt und entwickelten sie mit Künstlern, Handwerkern und Architekten an ihren neuen Schaffensorten weiter; dabei gingen sie Verbindungen mit den Traditionen der lokalen Kulturen ein, die sie gemeinsam fortführten. So etwa liesse sich erzählen, wie das Bauhaus nach seiner kurzen «deutschen» Zeit an vielen Orten in der Welt fortlebte, weiter gedieh, sich mit anderen Kulturen kreuzte und vermehrte. Es wäre die lineare Geschichte einer einmaligen Erfindung und ihres fruchtbaren Fortwirkens.

Im Gründungsjahr des Bauhauses, 1919, jedoch gründete Rabindranath Tagore im indischen Santiniketan die Reformkunstschule Kala Bhavan. Auch sie strebte eine Synthese von Kunst und Handwerk an. Auch sie befreite sich aus der bengalischen Gestaltungstradition. Auch sie sprengte den dortigen Kanon. Und: Es gab am Anfang keinen Bezug zum Bauhaus.

Verbindendes gegenseitiges Interesse

So zeigt sich: Einmalig und einzigartig war die Gründung des Bauhauses nicht. Die Überwindung der einschränkenden Tradition, wie immer sie entstanden war, die Abkehr vom blutleeren Akademismus (in Europa) bzw. vom dominierenden und entfremdenden Kolonialismus (in Indien) und die Einlassung auf Neues war in jener Zeit nach dem ersten Weltkrieg eine Strömung an vielen Orten der Welt. Der grosse Krieg hatte teils gewollt, teils zufällig Männer aus ihren Herkunftsorten gerissen und zum Kämpfen an weit entfernte Fronten beordert, wo sie zwangsweise mit ihnen fremden Gebräuchen, Formen und Verhaltensweisen konfrontiert wurden. Umgekehrt hatten nur wenig früher europäische Künstler und Forscher freiwillig und interessiert die ursprünglichen Kulturen in anderen Kontinenten entdeckt, bestaunt, schätzen gelernt und in ihr Schaffen einbezogen.

Bei näherem Hinsehen erweist sich die Geschichte als plurilinear, von unterschiedlichen Beweggründen und Ursprüngen bestimmt. Eine Moderne gibt es nicht. Es gibt mehrere Modernen, unterschiedlich doch miteinander verwandt, die sich schon bald durch Reisen massgebender Personen und durch gegenseitiges Lernen verknüpften. Ein Beispiel: Paul Klees kleine Zeichnung «Teppich» von 1927 zeigt neben- und ineinander einen Kelim und dessen Muster.

Als 1933 das Bauhaus mit Zwang geschlossen wurde, bestanden die Beziehungen fort, vertieften sich und weiteten sich auf andere Orte aus. Sie führten zu neuen Kulturverbindungen, neuen Formen der Gestaltung, neuer Interpretation und Technik in der Beziehung von Kunst und Handwerk.

«Der Künstler ist eine Steigerung des Handwerkers. Gnade des Himmels lässt in seltenen Lichtmomenten, die jenseits seines Wollens stehen, unbewusst Kunst aus dem Werk seiner Hand erblühen. Die Grundlage des Werkmässigen aber ist unerlässlich für jeden Künstler. Dort ist der Urquell des schöpferischen Gestaltens.» Dieses Credo verkündete der Gründer des Bauhauses, Walter Gropius, 1919 im radikalen Bauhaus-Manifest. Das Manifest enthielt auf der Rückseite unter dem Titel «Umfang der Lehre» das Bildungsprogramm der neuen Schule: detailliert, kühn, praxisbezogen und pragmatisch (Aufnahme von Schülerinnen und Schülern «soweit es der Raum zulässt»).

Forschung, Erkundung

Marion von Osten und Grant Watson haben mit zahlreichen Mitarbeitenden und unterstützt durch das offizielle Deutschland die Beziehungen zwischen dem Bauhaus und der Welt sowie das Fortwirken des Manifestes erforscht. Sie erkundeten an vielen Orten der Welt die heute noch lebendigen Sprossen und deren weiterführende Ansätze. Zusammengetragen haben sie eine Fülle von Eindrücken, Bildern, Gegenständen und vor allem einen verbindenden Eindruck: Die Motivation, den Kanon in Frage zu stellen, jeden Kanon immer neu zu überwinden, lebt weiter in zahlreichen Formen an vielen Orten, in traditionellem Verständnis so gut wie in avantgardistischen Versuchen.

Trotz ihrer Offenheit gaben die beiden Forschenden ihrem dicken und reich illustrierten Katalog den Untertitel «Die globale Rezeption (des Bauhauses) bis heute». Sie unterschlagen damit die anderen Wurzelstöcke der Moderne und unterschlagen teilweise ihre eigene Aufklärungsarbeit.

Gliederung

Wie nun lässt sich die Fülle an Erkenntnissen, Dokumenten, Werken in einer Ausstellung bändigen? Einmal durch Gliederung. Vier Kapitel oder Stationen helfen einordnen: Corresponding With, Learning From, Moving Away und Still Undead. An jeder Station geht es um das Bauhaus und um andere Orte mit verwandten pädagogischen und gestalterischen Praktiken. Die anderen Orte finden sich in Japan, in Indien, in Nigeria, in den USA, in Taiwan, in Mexiko, in Brasilien, in Marokko und in Grossbritannien. Man schlendert durch die Ausstellungsräume, durch die Zeit, durch geographische Räume, durch eine Vielfalt von Formen, Farben, Werken, nippt hier und da, bleibt hängen, verliert sich in einem Video, staunt und stutzt. Es ist ein erstes Sich-zurecht-finden-wollen in einem unübersichtlichen Kosmos, von dem man nach zwei Stunden vielleicht die Hälfte wirklich gesehen und einen Viertel verstanden hat. Bestenfalls. Denn am Schluss – im Kapitel «Still Undead» – weitet sich die Schau ausgehend von ersten Versuchen des Umgangs mit Licht und Farbe am Bauhaus zu Kunst und Technik, zu elektronischer Kunst, zur Digitalisierung und mündet damit in unsere Zeit mit ihrer allumfassenden Frage nach Künstlicher Intelligenz und der Herausforderung umfassender Digitalisierung unseres Lebens.

Überforderung

So verlässt man die Ausstellung überwältigt, mit einem Gefühl der Überfütterung und dem Nachgeschmack, diesem Ansturm von Eindrücken und Assoziationen nicht gewachsen zu sein. Und trotzdem vermisst man zum Beispiel die Erwähnung von Zeugnissen des Neuen Bauens in Bern (etwa des SUVA-Gebäudes, des Loryspitals, der Maternité Elfenau, des Meer-Hauses, der GIBB). Aber es gibt mit StattLand eine Führung Neues Bauen in Bern.

Sinnierend schlendert man auf der Museumsstrasse zum Café, und blickt beim Blättern im erschöpfenden Katalog ab und zu durch die grossen Fenster des lichten Raums auf die Umgebung im Schöngrün. Unwillkürlich denkt man an das Kunstmuseum. Soll nicht an der Hodlerstrasse die Erweiterung gerade dieses bringen: Licht, Raum, Bezug zur Umgebung bis hinunter an die Aare, freie Fläche zum Sein ohne Konsum- und Zahlzwang und vor allem ein Angebot an Kunstvermittlung? Und denkt: Sitzt man jetzt nicht gerade hier inmitten dieser Vision?