«Die Grosse Halle soll ein Raum sein, der sich auch sozialen Fragestellungen annimmt.»

von Luca Hubschmied 17. Mai 2018

Die Besetzung der grossen Halle ist seit anfangs Mai vorbei. Im Interview erzählen Luzius Engel und Nina Engel, die vor Kurzem die Betreibsleitung der grossen Halle übernahmen, von den Geschehnissen der vergangenen Wochen und ihren Zukunftsplänen.

Nina Engel und Luzius Engel haben turbulente Zeiten hinter sich. Mitte Februar dieses Jahres haben die beiden die Leitung der grossen Halle der Reitschule übernommen. Diese wurde Ende März durch das Kollektiv  «Die Wohlstandsverwahrlosten»  (mittlerweile «Halle für alle») besetzt. Das Kollektiv übte damit Kritik an der Nutzung der grossen Halle, die oft als verschlossener Raum wahrgenommen werde, wie die Besetzenden sagten (Journal B berichtete). Mittlerweile wurde die Besetzung der grossen Halle auf Anfangs Mai beendet.

 

Ihr wurdet ins kalte Wasser geworfen, nur kurz nach Übernahme der Betriebsleitung der Grossen Halle durch euch kam es zur Besetzung. Wie fühlte sich das an?

Nina Engel: Das war für uns in der Tat knifflig. Oder zumindest eine sehr anstrengende Zeit. Die Besetzung an sich war eine Sache, da waren wir auch schnell im Dialog, aber das ganze Drumherum forderte uns stark. Alle wollten plötzlich etwas von uns und es wurden schon viele schwierige Fragen aufgeworfen. Wir hatten kaum angefangen und waren in vielem noch unsicher.

Luzius Engel: Eigentlich wäre vorgesehen gewesen, dass wir in den ersten drei Monaten das Geschäft stückweise von Giorgio Andreoli übernehmen, das konnte so aber nicht stattfinden. Wir waren mehr beschäftigt mit anderen Themen als mit der Übernahme.

Empfandet ihr es so, dass man euch keine Chance gegeben hat, erstmal anzufangen und eure eigenen Ideen reinzubringen?

L.E.: Wir haben uns das definitiv anders vorgestellt, wir kamen noch gar nicht  dazu, unsere Vorstellungen zu skizzieren und diesen Ort vielleicht neu zu definieren. Wir haben den Besetzenden auch immer gesagt: Ihr hättet einfach anfragen können und dann wäre es möglich gewesen, dass ihr hier ein grösseres Projekt durchführt. Vieles wäre sehr einfach realisierbar gewesen, wenn man vorher mit uns gesprochen hätte.

Diese Kommunikation fand anfangs aber nicht statt?

L.E.: Die Kritik an der grossen Halle, ausgedrückt durch die Besetzung, wurde im Vorfeld nicht an uns herangetragen. Erst nach der erfolgten Aktion.

Ihr habt die Vollversammlungen des Besetzendenkollektivs teilweise auch besucht, wie habt ihr diese miterlebt?

L.E.: Wir haben uns gleich zu Beginn dialogbereit gezeigt und vom ersten Tag an Gespräche mit dem Kollektiv geführt und dann die erste Vollversammlung besucht um unsere Sicht der Dinge einzubringen. Ich habe die Diskussionskultur sehr positiv erlebt, wie auch die ganze Organisation des Kollektivs. Da konnten wir viel von ihnen lernen. Normalerweise bin ich mir die Arbeit in kleineren Gruppen gewöhnt, die Diskussionskultur in diesem grossen Kollektiv empfand ich als sehr fortschrittlich. Dafür haben sie meine Bewunderung. Man hat gemerkt, dass viele der BesetzerInnen sehr geübt waren im politischen Denken und in der politischen Diskussion.

Seit Anfang Mai läuft das Programm der Grossen Halle wieder ordentlich weiter, wie kam es zum Ende der Besetzung?

N.E.: Wir haben uns in den Diskussionen gegenseitig annähern und verstehen können. Die Besetzung ist nun aufgehoben, wir verhandeln aber immer noch darüber, wie es weitergeht und wie sich das Kollektiv in Zukunft einbringen kann. Ihre Vorstellungen von Kultur und davon, was in der Grossen Halle stattfinden soll sind etwas anders als unsere, es ist wichtig, dass beide Platz haben.

Inwiefern unterschieden sich eure Vorstellungen davon, was Kultur ist?

L.E.: Teil ihrer Kritik war, dass die Grosse Halle ein Freiraum sein soll, an dem Menschen niederschwellig teilhaben können. Wir teilen diese Idee, es gibt aber andere Aspekte von Kultur, die wir auch als Teil der Grossen Halle sehen. Etwa Kulturanlässe, bei denen Eintritt verlangt wird, weil die Produktion davon nicht gratis ist, wie zum Beispiel Theater- und Tanzaufführungen. Das Bedürfnis nach solchen Formen der Kultur habe ich von Seiten des Kollektivs nicht so verspürt, eher der Wunsch nach Begegnung, nach gemeinsamem Erleben und sich verwirklichen.

Auf welche konkreten Punkte konntet ihr euch denn nun einigen?

N.E.: Im Moment ist die Abmachung vor allem zeitlicher Art. Wir haben konkrete Zeiträume angeboten, in denen sie selbst etwas organisieren können und wir sie dabei soweit wie möglich unterstützen, falls gewünscht. Andererseits haben wir uns geeinigt, dass die programmierten Veranstaltungen in der Grossen Halle so stattfinden, wie geplant. Nun wollen wir aber unsere Vorstellungen gemeinsam weiterentwickeln und schauen, was entsteht. Es besteht auch die Möglichkeit, dass jemand aus dem Kollektiv einen Sitz im Vorstand einnimmt. Und natürlich sind wir nun sehr sensibilisiert für die Frage, wie wir Kultur allen zugänglich machen können.

L.E.: Wir haben uns schon vorher überlegt, wie die Kultur in der Grossen Halle möglichst breite Bevölkerungsschichten erreichen kann. Dabei geht es nicht nur um die Frage des Eintrittspreises, aber auch darum, wie wir die Menschen erreichen, wie Zugänglichkeit entstehet. Als Kulturort sind wir angehalten uns dazu ständig Gedanken zu machen und nach neuen Formen zu suchen.

N.E.: Für uns soll Kultur nicht einfach konsumieren sein. Das Publikum darf auch Teil des Ortes werden, mithelfen, mitdenken und mitgestalten. Warum beschränkt sich die gängige Vorstellung darauf, eine Veranstaltung zu besuchen und dann nach Hause zu gehen?

L.E.: Wir sehen eine grosse Chance darin, dass das Kollektiv «Halle für alle» hier regelmässig Anlässe durchführen kann und so auch Begegnungen und Vermischungen passieren, die sonst vielleicht nicht zustande kämen.

N.E.: So haben wir das bereits am letzten Flohmarkt erlebt, wo verschiedene Menschen aus dem Kollektiv die Bar gemacht haben. Die üblichen Besucher des Flohmarkts wurden dann plötzlich damit konfrontiert, dass ein Kaffee dort keinen fixen Preis hat, sondern frei in eine Kollekte bezahlt werden kann. Das kann gewisse Menschen auf den ersten Moment überfordern und dadurch interessante Diskussionen auslösen.

L.E.: Es soll jetzt aber nicht schon zu euphorisch klingen, die Zukunft wird zeigen, ob und wie es zusammen weitergeht. Wir müssen weiterhin zusammen reden, obwohl das in letzter Zeit sehr viele Ressourcen gebraucht hat. Das Kollektiv ist gross und die Abläufe entsprechend langsam, dabei sind wir teilweise an unsere Grenzen gestossen. Ein wichtiger Teil des Kompromisses war auch, dass der Trägerverein akzeptiert wird als Verein, der den Leistungsvertrag mit der Stadt innehat. Wir bleiben aber im Gespräch.

Wie oft erhält das Kollektiv «Halle für alle» nun die Gelegenheit, seine eigenen Ideen verwirklichen zu können?

N.E.: Wir reden von mehrtägigen, unterschiedlich langen Zeiträumen bis Ende August, auf die wir uns geeinigt haben. Dieses Wochenende zum Beispiel für vier Tage, im Juli während zwanzig Tagen.

L.E.: Wir haben angeboten, die Tage, die bis dahin noch nicht verplant waren, für «Halle für alle» zur Verfügung zu stellen. Das heisst aber nicht, dass diese Zeiten sonst leer geblieben wären, wir hätten da gerne auch selbst programmiert. In dem Sinn haben wir nur zähneknirschend unsere Freiheiten abgegeben. Das war für uns eine frustrierende Erfahrung, weshalb wir gespannt sind, was in diesen Zeiten in der Grossen Halle stattfinden wird. Von unserer Seite besteht definitiv eine gewisse Erwartungshaltung.

Teilt ihr denn die Kritik, die am Betrieb der grossen Halle geübt wurde?

L.E.: Ich empfand die Kritik grossteils als recht undifferenziert. Hätte sich das Kollektiv vorher besser informiert, hätte es seine Kritik konstruktiver einbringen können. Die Grosse Halle bietet seit vielen Jahren ein hochstehendes Kulturprogramm. Auf der anderen Seite habe ich Verständnis dafür, dass die Grosse Halle subjektiv als ein oft verschlossener Raum wahrgenommen wurde, in dem zu wenig läuft. Das hat aber auch mit der Grösse des Raumes und den damit verbundenen Anforderungen an einen Anlass zu tun.

N.E.: Wir teilen schon einen Teil der Kritik an der Grossen Halle wie sie bisher war und haben Veränderungswillen mitgebracht. Auch die anderen Themen, die vom Kollektiv angesprochen wurden, sind uns nicht fern. Wir teilen vielleicht nicht alle Ansichten, aber auch wir haben eine kritische Grundhaltung und sind der Meinung, auf der Welt läuft vieles nicht so, wie es sollte. Daraus gelangen wir aber nicht unbedingt zu denselben Schlussfolgerungen. Das mag unter anderem daran liegen, dass wir fast schon eine andere Generation darstellen.

Ihr seid beide stark in der Berner Theater- und Kulturszene verankert und habt zusammen die Tanzgruppe «Kollektiv F» gegründet. Wie kamt ihr nun zur Leitung der Grossen Halle?

N.E.: Die Stelle war ausgeschrieben, also haben wir uns beworben (lacht). Luzius und ich arbeiteten schon vorher zusammen und dachten: «Hey, warum nicht?»

L.E.: Es klang nach einer spannenden Stelle in einem grossen Kulturbetrieb mit Konzerten, Theatern und Ausstellungen, den wir mitprägen dürfen. Ein Kulturbetrieb an einem sehr speziellen und wichtigen Ort in Bern. Alleine wollten wir das aber nicht machen, weshalb wir uns als Team beworben haben. Das dürfte dann auch ein wichtiges Kriterium bei der Wahl gewesen sein.

N.E.: Aus Sicht des UNA Festivals, welches zwei Mal einen ganzen Monat lang in der Grossen Halle stattgefunden hat und welches ich mitorganisiert habe, sah ich es auch als Chance, durch eine bezahlte Stelle Ressourcen schaffen zu können, die eben wieder einen Nährboden für andere solche Projekte schaffen könnten. Diese Ressourcen haben uns in der Organisation des Festivals aus meiner Sicht zum Teil gefehlt. Ich war dann am Schluss sehr müde von der grossen Menge unentgeltlicher Arbeit, die ich geleistet hatte.

Du hast das Thema der Lohnarbeit angesprochen. Braucht es eine Institution wie die Grosse Halle, die Eintritte verlangt und Löhne zahlt?

L.E.: Ich bezweifle, dass man einen solchen Ort ehrenamtlich betreiben kann. Meiner Meinung nach braucht es im Kulturbereich sogar unbedingt faire Löhne. Die Menschen, die Kultur machen, müssen davon leben können. Dass ihre Arbeit bezahlt ist, ist eine wichtige Voraussetzung für die Freiheit des künstlerischen Schaffens. Und dasselbe gilt für jene, die Kultur organisieren.

N.E.: Wichtig ist vor allem die Frage, ob man davon leben kann. Sobald dein Leben abgesichert ist, hast du die Freiheit, vieles umzusetzen. Wenn das nicht gesichert ist, stehst du immer unter Druck, nebenbei mit anderen Arbeiten noch dein notwendiges Einkommen zu verdienen.

Mit was für Ideen habt ihr die Leitung des Trägervereins angetreten? Was soll aus der grossen Halle werden?

N.E.: Die Grosse Halle soll ein offener Raum sein, der Platz für möglichst viele verschiedene Projekte bietet und es gleichzeitig schafft, einer Linie treu zu bleiben. Ein Raum, der sich auch sozialen Fragestellungen annimmt. Hier sollen Projekte stattfinden, welche Fragen stellen und Kritik an der Gesellschaft und bestehenden Strukturen umsetzen.

L.E.: Zu Beginn habe ich viel von der Kulturszene aus gedacht und weniger von der Seite des Publikums. Darin sehe ich auch einen Teil unserer Aufgabe: Wie soll dieser Raum funktionieren, damit darin möglichst viel realisierbar ist? Was können wir dazu beitragen, dass Kulturschaffende hier gute Voraussetzungen finden?

N.E.: Hier soll Verschiedenes kombiniert und Kultur als Erlebnis gedacht werden. So dass beispielsweise der Abend nach einer Theateraufführung nicht fertig ist, sondern noch ein Austausch darüber oder über etwas anderes stattfindet.

L.E.: Letzten Samstag, am Tag der offenen Türe, standen ab etwa 23 Uhr auf einmal viele junge Menschen, die vorher auf dem Vorplatz waren, in der grossen Halle und es herrschte eine sehr schöne, friedliche Stimmung. Zuvor an dem Abend fand ein Theater statt und wir bereuten es im Nachhinein, dass wir nicht noch eine Late Night Aufführung für das spontan angekommene Publikum eingelegt hatten. Wir haben grosse Lust, über solche Möglichkeiten nachzudenken und damit zu experimentieren.

N.E.: Uns ist es wichtig, die Menschen herauszufordern, Denkanstösse zu geben und auch einfach mal etwas zu wagen. Das haben wir uns vorgenommen und das wollen wir auch umsetzen.

L.E.: Wichtig ist auch zu betonen, dass die Grosse Halle, auch wenn sie von der Reitschule unabhängig ist, sich mit uns weiterhin am Reitschulmanifest orientieren wird. Wir teilen die darin formulierten Grundsätze und diese sollen auch für unsere Veranstaltungen gelten.

Auch die Dampfzentrale war einst ein besetztes Haus, hat sich dann aber in eine eigene Richtung weiterentwickelt.

N.E.: Wir sind uns der Bedeutung der Grossen Halle und der Zusammenhänge an diesem Ort bewusst. Keinesfalls wollen wir, dass die Grosse Halle zu einer zweiten Dampfzentrale wird, das würde nicht passen und braucht es nicht. Die anstehende Sanierung der Grossen Halle soll diese nicht in ein solches Kulturhaus verwandeln. Die Grosse Halle soll in ihrem Charakter erhalten bleiben und sie soll ein Freiraum bleiben, in dem Sachen möglich sind, die sonst nirgends Platz finden.

Am 10. Juni entscheiden die Berner Stimmberechtigten über den Drei-Millionen-Kredit zur Sanierung der Grossen Halle. Wie wichtig ist es für die Abstimmung, dass nun mehr Ruhe herrscht und die Besetzung aufgehoben wurde?

L.E.: Ich denke, Ruhe braucht es hier nicht unbedingt. Ein Kulturort soll anstacheln, herausfordern und Unruhe schaffen. Trotzdem ist es wichtig, dass aus der Grossen Halle gute Nachrichten kommen, deshalb sind wir froh, dass mittlerweile im Zusammenhang mit der Besetzung eine Lösung gefunden wurde.

N.E.: Dieser Ort lebt und bewegt sich, da passiert halt mal Unvorhergesehenes. Das gehört aber dazu und das weiss das Berner Stimmvolk hoffentlich auch.

L.E.: Hier werden Debatten manchmal so geführt, dass zuerst ein Zeichen gesetzt wird, wie mit einer Besetzung zum Beispiel, auch wenn das anfangs als Gewaltakt empfunden wird. Auch wir haben das so wahrgenommen und wollen das jetzt nicht unbedingt gutheissen, akzeptieren das aber als Teil einer an diesem Ort gelebten politischen Kultur.

Inwiefern kann die Grosse Halle durch die geplante Sanierung profitieren?

L.E.: Der Charakter der Grossen Halle als gedeckte Allmend bleibt so bestehen. Sie wird für KünstlerInnen aber einfacher zu bespielen, die Infrastrukturboxen werden vergrössert, es gibt mehr Lagerraum, zudem sind Garderoben und ein rollstuhlgängiges WC geplant.  Auch die Möglichkeiten zur Beheizung sollen verbessert werden, so dass sich unsere Saison etwas verlängert. Darum braucht es am 10. Juni ein grosses JA!

N.E.: Genau.

 

Die nächsten Projekte in der grossen Halle:
Johannes Dullin – «The best piece of this season» heute, 17. Mai 20:30
«LINEA | New York • Amsterdam • Genova» – Musik- und Filminstallation 31. Mai – 1. Juni
mehr unter www.grossehalle.ch