Wenn einer Nachkomme des letzten Berner Schultheiss ist, mit Ahnen aufwächst, die im Zarenreich als Diplomaten und Händler tätig waren und dann völlig verarmt aus Russland fliehen mussten. Wenn dieser Nachkomme im Burgerlichen Waisenhaus in Bern seine Jugend verbringt, später Banker und Aktivist wird, verwandt ist mit Sergius Golowin, befreundet mit Franz Gertsch, Zeno Zürcher, Achmed Huber und vielen anderen aus der Berner Untergrundszene und zu den Gründern der Junkere 37 gehört, dann ruft diese Biografie geradezu nach einer Aufarbeitung. Über dieses Leben muss einfach geschrieben werden. Das sagte sich offenbar auch die Bieler Künstlerin Inga Häusermann. Als Freundin der Familie – wie sie im Nachwort schreibt – kannte sie den Protagonisten seit Jugendtagen. Wenn er bei Festen jeweils aus seinem bewegten Leben erzählte, habe sie immer fasziniert zugehört und habe gehofft, diese Geschichte eines Tages zu Papier bringen zu können. Kurz vor seinem Tod hat sie sich dann auf Spaziergänge mit Niklaus von Steiger dessen Geschichte noch einmal ausführlich erzählen lassen. Zusammen mit Auszügen aus persönlichen Aufzeichnungen, mit Quellenmaterial und Briefen von Angehörigen ist das Buch entstanden, das jetzt beim Verlag Hier und Jetzt greifbar ist. Illustriert mit Bildern aus drei Jahrhunderten.
Unglaublich reiche Geschichte
In diesem Buch liest sich Unglaubliches. Über die Vorfahren der Familie von Steiger etwa, Berner Patrizier, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihre Heimat auf abenteuerlichem Weg verliessen, in der Nähe von St. Petersburg auf Gutshöfen ihr Glück suchten – und auch fanden. Über deren Nachkommen, die in Konstantinopel als Händler und Diplomaten zur besten Gesellschaft gehörten. Und schliesslich über die dritte Generation, die sich am Zarenhof und in der Armee verdient machte, sich mit reichen Fabrikantentöchtern verheiratete, aber schliesslich verarmt in die Heimat der Vorväter zurückkehren musste. Weil sie immer noch das Schweizer Bürgerrecht besassen, wurden sie hier aufgenommen, erhielten Unterstützung von der Zunft, der sie auch immer noch angehörten, und konnten nach Kuraufenthalten in hiesigen Sanatorien schliesslich in der alten Heimat wieder Fuss fassen. Nach einer über hundertjährigen Odyssee durch Russland, die Ukraine und das Osmanische Reich war die unterdessen mehrköpfige russisch-bernische Familie von Steiger wieder in Bern, wo 1933 der Sohn Niklaus (Nikolka) zur Welt kam.
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Wladimir und Walentina von Steiger-Sorokina besassen in Bern anfänglich einen Feinkostladen, der Vater arbeitete aber vorwiegend als Übersetzer und Diplomat im Ausland und war lange Vertreter des Roten Kreuzes in Bulgarien. Niklaus wuchs anfänglich bei seiner Mutter auf, die nie aufhörte, von einer Rückkehr in ihre Heimat zu träumen. Er war verbunden mit der russischen Tradition, integriert in die orthodoxe Exilgemeinde und bekam in der Schulzeit die antisowjetischen Ressentiments jener Zeit zu spüren. Nach dem Tod seines Vaters übersiedelte die Mutter nach Paris zu ihrem Liebhaber, und Niklaus kam ins Burgerliche Waisenhaus.
Steigerowska
Dieser historische Abschnitt bis zurück in die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts nimmt einen grossen Teil des 270-seitigen Buches ein. Er liest sich eher mühsam, weil die weit verzweigten Familiengeschichten der Söhne von Auswanderer Rudolf von Steiger (1787 – 1869) samt jenen der jeweils zugeheirateten Ehefrauen und Geliebten mehr oder weniger linear erzählt werden. Die chronologische Aufzählung von Karrieren, Kriegen, Krankheiten, Umzügen, Neuanfängen nötigt die Lesenden immer wieder, auf die letzten Seiten zu blättern, zum Stammbaum der Familie. Zurückblättern muss übrigens auch, wer die historischen Fotos zuordnen will. Kurze Legenden wären hilfreich.
Dennoch: einige Reminiszenzen sind geradezu filmreif oder zumindest romanreif. Zum Beispiel die Begegnung eines Familienmitglieds (Doppelagent im Aussenministerium in Moskau) mit dem Schriftsteller Michail Bulgakov. Dieses Treffen ist sogar in Bulgakows Roman «Der Meister und Margerita» verewigt. Oder die Geschichte des Grossvaters von Niklaus von Steiger, der kurzzeitig in Odessa einen Kutscherbetrieb führte. Diese Kutschen wurden Steigerowska genannt, ein Name, der im Volksmund sowohl die Russische Revolution wie sämtliche Nachkriegswirren überlebte und später zu einem festen Begriff für «Taxi» werden sollte.
Junkere37
Ab den 30-er-Jahren, mit der Rückkehr der Familie nach Bern, wird die Geschichte authentischer und lebendiger, weil sie auch immer wieder von live erzählten Gesprächen der Autorin mit Niklaus von Steiger unterbrochen werden. Da vernimmt man dann 1:1, wie die Enge der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre sich anfühlte. Wie der junge Halbwaise vor dem Burgerratspräsidenten antraben muss wegen Zecherei mit seinem Cousin Sergius Golowin. Wie die Burgergemeinde ihn in eine Banklehre steckte, wo sich der schöngeistige Literat anfänglich gar nicht wohl fühlt, sich aber widerwillig den Plänen seines Vormunds fügt. Mehr noch: Er entdeckt sogar eine gewisse Affinität zum Geldgeschäft und wird später in der Nonkonformistenszene gerade deshalb geschätzt, weil er gute Dienste als Kassier leistet. Im Tägelleist und später in der Junkere 37, in beiden ist von Steiger aktives Gründungsmitglied, ist Geld und Reichtum verpönt, die jungen Wilden der frühen Sechzigerjahre wollen die Welt verändern, sie diskutieren Abende lang über Literatur, Politik dem Ausbruch aus allen Konventionen. Von Steigers Cousin Sergius Golowin, auch er ein Sohn aus der weit verzweigten bernisch-russischen ehemaligen Auswandererfamilie, ist ein charismatischer Nonkonformist, ein begeisterter Sinti- und Romaforscher, und bald auch ein stadtbekannter Politiker. Als geistreicher und unterhaltsamer Gesprächspartner scharte er Menschen um sich. Niklaus bewunderte ihn, verhehlt aber später auch nicht, dass Golowin ausgesprochen dominant und herrschsüchtig sein konnte und für seine Umgebung oft eine Zumutung war.
Diese Kapitel im 2. Teil des Buchs sind im Gegensatz zum 1. Teil spannender und lesefreundlicher. Man bekommt unter anderem auch einen Einblick in die Anfänge der Reformpädagogik, der sich Zeno Zürcher, ein weiterer Freund von Steigers, zuwandte sowie in den Hyperrealismus, den der Maler Franz Gertsch sehr zum Leidwesen Golowins für sich entdeckte.
Fazit: ein lesenswertes Buch über eine schillernde Berner Persönlichkeit. Ein spannender Einblick in ein Leben zwischen allen gängigen Mustern. Man könnte sich aber eine gekonntere, leserInnenfreundlichere Umsetzung vorstellen.