Die Gegenwärtigkeit von Anny Klawa-Morf

von Thomas Göttin 5. April 2024

Literatur Die Biografie von Anny Klawa-Morf (1894-1993) ist neu aufgelegt worden. Die Neuauflage belegt den Wandel in der Wahrnehmung.

In der Entstehungsgeschichte der Biografie von Anny Klawa-Morf spiegelt sich ein spannendes Stück Frauen- und Zeitgeschichte. Die Autorin Annette Frei Berthoud gehörte in den 1970er Jahren zu den Pionierinnen der Frauengeschichte. Damals traf sie im Länggassquartier die bald 90jährige Anny Klawa-Morf, die ihr einen lebendigen Zugang zur Arbeiterinnen-Geschichte zu Beginn des Jahrhunderts eröffnete. In der neu aufkommenden Tradition der mündlichen Geschichtsschreibung (Oral History) entstand 1982 «I ha nie ufgäh», ein Fernsehfilm über Anny Klawa-Morf und die frühe Arbeiterinnen-Bewegung.

1. Mai Umzug in Zürich. Anny Morf in weisser Bluse und dunkler Schärpe vorne links (Foto: zvg).

Geschichte in Ich-Form

Die unmittelbare Sprache prägt auch die Biografie von Annette Frei Berthoud über Anny Klawa-Morf «Die Welt ist mein Haus», die 1991 erschienen ist. In lebhafter Ich-Form erzählt Anny Klawa-Morf aus ihrem fast hundertjährigen Leben als Arbeiterin und Sozialistin. Geschichte wird anschaulich und erhält eine persönliche, neue oder überraschende Perspektive.

Lebendig wird das kämpferische Engagement von Anny Klawa-Morf: Wie sie Protokollbücher der Arbeiterunion 1912 anlässlich des Zürcher Generalstreiks unter ihren Röcken, aus dem vom Militär umstellten Volkshaus rettet. Wie sie sich an der deutschen Räterepublik beteiligt und als Folge im Gefängnis landet, oder sich im spanischen Bürgerkrieg engagiert.

1911 gründet sie in Zürich die sozialistische Mädchengruppe, 1922 in Bern die Roten Falken: «je eine Gruppe im Südquartier, im Ostring, in der Matte unten und in der Länggasse. Überall suchten wir Lokale.» Aber sie spricht auch eindringlich über die zahllosen Ungerechtigkeiten die sie als Frau, Arbeiterin und später als Ehefrau eines Ausländers erlebt.

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Im öffentlichen Bewusstsein

Durch die Biografie wurde Anny Klawa-Morf zu einer schweizweit bekannten Persönlichkeit. 2004 benannte die Stadt Bern die Klawastrasse nach ihr, 2010 folgte Zürich mit dem Anny Klawa-Morf Platz. Im Buch zum 125-jährigen Jubiläum der SP Schweiz von 2013 ist ihr ein eigenes Kapitel gewidmet, während sie 25 Jahre zuvor noch keine Erwähnung fand. 2019 schliesslich erhielt die neue SP-nahe Stiftung für progressive Bildung ihren Namen. Die Anny Klawa-Morf Stiftung hat sich in kurzer Zeit zu einer innovativen Stimme in der aktuellen gesellschaftlichen Debatte entwickelt. Viele der Themen, mit welchen sich Anny Klawa-Morf beschäftigte, die Ungerechtigkeiten, gegen die sie ankämpfte, die internationale Solidarität, die sie lebte, sind weiter aktuell.

Anny Klawa-Morf mit Bundesrat Willy Ritschard am SP-Parteitag in Lugano 1978 (Foto: zvg).