Die Frühlingshängung in der Altstadt

von Zahai Bürgi 25. April 2017

Mit der BEA startet in der Altstadt die Zeit der Beflaggung. Über Flaggenkonzepte und Symbolik der Fahnen ein Erfahrungsbericht eines Leist-Mitglieds im städtischen Beflaggungsteam.

Nun hängen sie wieder. Immer wenn in der Altstadt Vollbeflaggung herrscht, freue ich mich über diese bunte und flatterhafte Vielfalt, und ich frage mich spontan: «Jä, isch scho wieder BEA?» Schliesslich weiss ich, die Fahnen wehen immer aus einem bestimmten Grund…

Der Unterschied zwischen Fahne und Flagge

Reden wir umgangssprachlich von Fahnen, meinen wir meist Flaggen. Eine Fahne hingegen ist immer nur Einzelstück, das für einen ganz bestimmten Verwendungszweck hergestellt wurde. Die Fahne ist im Gegensatz zu einer Flagge auch nicht einfach austauschbar, wenn sie verschlissen oder beschädigt ist. Fahnen symbolisieren stellvertretend eine Gemeinschaft und die Treue ihr gegenüber. Sie gelten deshalb selbst als «heilig», werden meist kirchlich geweiht und an besonderer Stelle aufbewahrt. Flaggen hingegen sind sozusagen «Massenware», die jeder und jede käuflich erwerben kann, im Laden oder im Souvenirshop. Auch die Schweizerfahnen, die beispielsweise vor Schrebergarten-Häuschen oder am Heck von Motor-Booten flattern, sind strenggenommen Flaggen. «Flagge gezeigt» wird also bei vielen offiziellen Zeremonien und erst recht bei Demonstrationen. Und geht es um Zugehörigkeitsgefühle zu einem Verein oder einer Organisation, dann hängen wir im Überschwang schon mal eine Fahne auf den Balkon oder ans Auto. Auch wenn das Wort Fan rein gar nichts mit dem Wort Fahne zu tun hat…

Die ursprüngliche Aufgabe der Fahnen

Das altdeutsche Wort «gundfano» bedeutet Kampftuch. Dies war – nebst der Repräsentation der Familie oder des Gebietes durch ein Stammeszeichen – die ursprüngliche Aufgabe jeder Fahne. Seit der Antike befand sich das Zentrum eines Kampfes da, wo die Fahne wehte. In ihrer Nähe kämpfte auch der Feldherr, hier liefen die Nachrichten über den Kampfverlauf zusammen und die Befehle ins Feld zurück. Wird dem verwundeten oder gefallenen Fähnrich die Fahne aus der Hand gerissen, und gerät sie als Beute in die Hände des Feindes, gehen womöglich ganze Geschlechter unter und Ländereien in fremde Hände über. Heldenlieder besingen diese Fahnen und ihre Träger. Und das Bespucken, Zertreten, Zerreissen und Verbrennen von Fahnen wirkt wie ein Schlag ins Gesicht der Gruppen-Ehre und wird als verräterisches Sakrileg juristisch geahndet. Sie lächeln, liebe Lesende, über meine heroischen Worte. Aber kennen Sie nicht alle die Begriffe Fahneneid und Fahnenflucht, und hat dieser Funke Respekt vor einer Fahne nicht doch noch in einer Ecke Ihrer Seele die Jahrhunderte überdauert?

Offizielle Fahnenordnung

Eine offizielle Fahnenordnung verabschiedete die Schweizer Armee erstaunlicherweise erst im Jahr 2008. Auf 79 Seiten wird darin bis ins kleinste Detail beschrieben, welche Masse und welche Verwendung die offiziellen Fahnen haben, und auf welche Weise sie benutzt werden sollen, respektive müssen. Abgesehen von diesem beispielhaften Abbild für Verwaltungsarbeit eine alles in allem ergötzliche Lektüre. Oder haben Sie, liebe Schrebergärtner, gewusst, dass man eine Schweizerfahne in der Nacht nicht hängen lassen darf, ausser man beleuchtet sie? Gut, in Ordnung, da habe ich die Begriffe Fahne und Flagge wohl wieder vermischt…

Ordnung im Fahnengewirr der Altstadt

Doch zurück aus Geschichtstiefen in die Berner Altstadt. Hier wehen die Fahnen mal in voller Pracht von den Fassaden, dann wieder sind sie für Wochen wie von Geisterhand verschwunden. Das nahm ich so hin, es kümmerte mich nicht weiter, bis ich irgendeinmal wieder durch die Gassen wanderte. Und diesmal wanderten meine Augen bewusst mit und meine Aufmerksamkeit den Fahnenreihen entlang, und ich entdeckte eine gewisse Ordnung im Ganzen.

Von Amtsbezirken und Zunftfahnen

In der Gerechtigkeitsgasse sowie in Rathaus- und Brunngasse hingen offensichtlich Kantonsfahnen, die kannte ich. In der Kramgasse hingen Fahnen mit mir unbekannten Symbolen, die ich, Google sei dank, den 26 Berner Amtsbezirken zuweisen konnte. Weitere inhaltliche Rätsel gaben mir die Fahnen in der Herren- und Münstergasse auf, die sich als Hoheitszeichen der Berner Zünfte herausstellten. Sie hängen immer in Abwechslung mit der hier offensichtlich dominanten, geflammten Altberner Fahne, der alten Regimentsfahne und heutigen «Zunftfahne» der Bernburger. In den beiden Hauptgassen präsentiert sich die Beflaggung allerdings nicht ganz so einfach. Da hängen zusätzlich zu den Kantons- beziehungsweise Amtsbezirksfahnen zuoberst und zuunterst jeweils Schweizer-, Berner- und Altberner Flaggen. Mein Interesse an dieser recht komplexen Ordnung war geweckt. Doch erst als im Leist-Vorstand ein Vertreter für die jährliche Sitzung des «Beflaggungsteams» gewählt werden musste und ich mich als Ersatz-Delegierte für unseren diesmal verhinderten Fahnenbeauftragten zur Verfügung stellte, kam ich beim Studium der Sitzungsunterlagen dem Ordnungsprinzip der Fahnenhängung auf die Spur.

Bern hat ein minutiöses Beflaggungskonzept

Das Beflaggungskonzept des Polizeiinspektorats steht unter der Obhut der Sektion Veranstaltungsmanagement der Stadt, die von Dominique Steiner geleitet wird. Auf drei Seiten sind unter anderem darin vier Grundsätze für die Form und Art der Fahnen, sieben Beflaggungsarten und acht Anlässe zur Aushängung der Flaggen beschrieben. Ich sah meine Beobachtungen bestätigt, ja übertroffen: Nicht nur jede Gasse hat ihre eigene Beflaggungsordnung, auch das Hängen von Fahnen in Quergassen, auf Plätzen, an Toren und speziellen Einzelgebäuden ist strengstens geregelt. Und neben dem «Wo» unterliegt auch das «Wann» genauen Vorschriften. Es sind – in der jährlichen Sitzung des «Beflaggungsteams» gemeinsam diskutierte und festgelegte – Zeiträume und Events, an denen die Quartiere zum Schmücken der Fassaden aufgerufen und instruiert werden. Keine leichte Aufgabe, hat die Sitzungsleiterin Dominique Steiner doch jeweils ein Teilnehmerteam aus 16 städtischen Institutionen zu bändigen. Dazu gehören auch die fünf Leiste der Unteren Altstadt und die Vereinigung der Altstadtleiste VAL. Seit letztem Jahr gibt es allerdings diese Sitzung nicht mehr, und alle Informationen werden per e-mail verschickt.

Frühlingshängung und Torbeflaggung

Wurden früher die Flaggen für die einzelnen Feste immer wieder auf- und abgehängt, hat sich mittlerweile die sogenannte volle «Frühlingshängung» von der BEA bis zum Frauenlauf als effizienter herausgestellt. Um den ersten August herum wird dann die reduzierte «Torbeflaggung» angebracht, bei der nur noch die oben beschriebenen Schweizer- und Berner-Fahnen am Anfang und am Ende der Gassen aufgehängt werden. Ausserhalb dieser beiden Zeiträume werden Beflaggungs-Wünsche für Spezialanlässe – z.B. auch mit speziell bedruckten Werbefahnen – nur auf Anfrage und nach Absprache bewilligt.

Jeder kann und darf sich informieren

Die Tradition, die Gassen der Altstadt geregelt und einheitlich zu beflaggen, wirft auch bei Anwohnern und Hauseigentümern von Zeit zu Zeit Fragen auf. Der Bernburger Berchtold Weber übernahm 2010 die Aufgabe, diese wieder einmal grundsätzlich zu beantworten. Als langjähriger Professor für Heraldik (Wappenkunde) und Vexillologie (Fahnenkunde) am Historischen Institut, stand er der Burgergemeinde seit über 30 Jahren als wissenschaftlicher Heraldik-Experte zur Seite und war in dieser Aufgabe von Anfang an Mitglied des Beflaggungsteams der Stadt. In einem Brief an Fragesteller ging er im Detail auf denkmalpflegerische, heraldische, touristische und finanzielle Aspekte ein. Einige Erkenntnisse: Juristisch gesehen ist die Stadt als Besitzerin der Strassen allein zuständig für die an Häusern befestigten Objekte, die in den Gassenraum hinausragen. An denkmalgeschützten Häusern dürfen nur Hoheitszeichen aufgehängt werden, die im Bundesgesetz vom Juni 1931 definiert sind. Deshalb ist auch nur die Stadt befugt, Regeln dafür aufzustellen. Die Sektion Veranstaltungsmanagement ist zuständig für Gesuche und Ausnahmebewilligungen, das Bauinspektorat für die technische Seite der Beflaggung. Kein Hauseigentümer darf aber dazu gezwungen werden, Fahnen oder ihre Halterungen an seinem Gebäude zu dulden. Hier gelten einzig das Solidaritätsprinzip und die Bereitschaft zur Verschönerung unserer Stadt.

Die Rolle der Unterstadt-Leiste

Als Vertreter der Hauseigentümer-Interessen obliegt den Leisten neben anderen Aufgaben auch die Verantwortung für das Fahnenwesen in ihrem Quartier (für die Obere Altstadt ist BernCity zuständig). Sie beauftragen das Tiefbauamt oder Handwerksbetriebe mit der Montage und Lagerung der Fahnen, und – wenn nötig – die Herstellungs-Firmen mit der Lieferung neuer Exemplare.

André Steiger, zuständig für das Ressort Gassenschmuck und somit auch «Fahnenwart» des Kramgassleists, gab mir Auskunft über seine Aufgabe: «Allein in unserem Leist-Gebiet werden bei Vollbeflaggung rund 50 Fahnen montiert, bei Torbeflaggung noch zwölf. Unsere momentan eingesetzten Fahnen sind etwa seit 15 – 20 Jahren in Gebrauch. Sie sind in dieser Zeit 1x gewaschen worden. Wegen Witterungseinflüssen oder Vandalismus und Diebstahl muss pro Jahr mindestens eine Fahne ersetzt werden. Die Montage für eine Vollbeflaggung kostet 1’200 Franken, eine Torbeflaggung 600 Franken. Hier inbegriffen ist auch die Lagerungsgebühr und die Kontrolle und Entwirrung der Fahnen während des Aushangs. Finanzielle Zustüpfe sind dem Leist natürlich höchst willkommen». Leistvorstand Peter Ineichen hatte sich vor einigen Jahren dazu etwas einfallen lassen und – hilf dir selbst, dann wird dir geholfen – ein ausgemustertes Fahnenset den Anwohnern zum Kauf angeboten.

Erneuerung des Flaggen-Set

Der Fahnenzuständige des Leists der Untern Stadt weiss, dass nächstens in der Gerechtigkeitsgasse wieder ein ganzes Flaggen-Set erneuert werden muss, die Lebensdauer der Fahnen von ca. 20 Jahren ist überschritten. Eine Flagge kostet pro Stück zwischen 100 und 400 Franken, je nachdem ob sie – wie die Gemeindefahnen – von den Näherinnen von Hand zugeschnitten und zusammengenäht oder – wie die Schweizer- und Kantonsfahnen – vorgedruckt sind. Ein neues Set aus den 26 Kantons- und 9 «Tor»-Fahnen kostet den LUS rund 18 000 Franken, denn es werden immer gleich drei Exemplare jeder Fahne bestellt. Die Suche nach langjährigen Finanz-Partnern hat sich als schwierig erwiesen. Anfragen bei Hotelier- und Gastrovereinigungen und bei Bern Tourismus blieben bisher erfolglos. Begründung: Die Fahnen allein vermögen keine Extra-Besucher in die Stadt zu locken. So berappen weiterhin zur Hauptsache die Mitglieder-Geschäfte durch ihren jährlichen Leistbeitrag den Fahnenschmuck «ihrer» Gassen selbst. Da sind gelegentliche Zustüpfe auch durch die Stadt, die Burgergemeinde und neue private Spender mehr als willkommen und werden bestens verdankt.

Autorin: Zahai Bürgi Aus BrunneZytig 3/16