Die Freiheit, Geschichten zu erzählen

von Nina Hurni 21. Mai 2024

Interview Am Mittwoch beginnt das Theaterfestival auawirleben unter dem Motto «How did we get here?». Gezeigt wird unter anderem die Performance «Voice of Fingers» von Said Reza Adib und Thomas Bellinck. Ein Gespräch über Fingerabdrücke und die Gewalt von Grenzen.

«How did we get here?» ist das Thema der diesjährigen Ausgabe des Theaterfestivals auawirleben. Kommt ihr nach Bern, und wenn ja wie, frage ich meine Interviewpartner zu Beginn des Gesprächs. Said Reza Adib und Thomas Bellinck haben zusammen das Stück «The Voice of Fingers» geschrieben. «Ich wäre gerne gekommen», antwortet Adib. «Aber ich kann nicht. Thomas wird mich vertreten».

Said Reza Adib hat das Stück, das er mitgeschrieben hat, noch nie gesehen. Das liegt an der Grenzpolitik Europas: mit seinem aktuellen Aufenthaltsstatus kann er Finnland nicht verlassen. Und genau darum dreht sich das Stück «The Voice of Fingers»: um internationale Bewegungsfreiheit, die für die einen selbstverständlich scheint, während für andere jede Grenze eine fast unüberwindbare Hürde ist. Adib und Bellinck erzählen diese Geschichte der gewaltvollen Grenzen anhand von sieben Situationen, in denen Fingerabdrücke genommen werden. Fingerabdrücke sind dabei ein Instrument, das benutzt wird, um Menschen zu registrieren und zu bestimmen, wer sich wohin bewegen darf – und wer nicht.

«The Voice of Fingers» wird nun also in Bern zu sehen sein. Das Theaterfestival auawirleben ist schon lange ein wichtiger Bestandteil des Berner Kulturlebens. In der zwischengenutzten Markuskirche im Breitsch befindet sich dieses Jahr das Festivalzentrum, in dem sich die Menschen verpflegen können und das auch als Spielort dient. Auawirleben steht für eine Kultur, wie sie auch von den grossen Häusern verlangt werden sollte: Die Zugänglichkeit der Spielorte und Spielformate wird von Anfang an mitgedacht und alles unternommen, um so viele Barrieren wie möglich einzureissen.

Da gibt es Performances, die in Gebärdensprache übersetzt oder übertitelt werden, Audiodeskriptionen für Menschen mit Seheinschränkungen und Relaxed Performances für Menschen, die nicht gut mit zu vielen Reizen oder langem Stillsitzen umgehen können. Auf der Website finden sich zu allen Stücken Beschreibungen in leichter Sprache. Auch die Programmierung zeigt, dass ein wirklich politisches und diverses Line-Up möglich ist. Das Programm umfasst Vorstellungen verschiedenster internationaler Performance- und Theatergruppen, sowie Gespräche, Konzerte und Installationen.

Wir versuchten, praktische Lösungen zu finden für ein Problem, das nicht praktisch ist, sondern politisch.

Ich treffe Bellinck und Adib, deren Stück das Festival eröffnen wird, zum Gespräch auf Zoom. Bellick sitzt in der Sonne in Brüssel, Adib vor einem geblümten Vorhang in Helsinki und ich in meinem Wohnzimmer in Basel. Bellinck führt meine Einstiegsfrage, ob sie in Bern sein werden, noch mehr aus.

Bellinck: Ich finde es interessant, dass der Titel des Festivals «How did we get here?» lautet. Weil in unserem Stück geht es ja eher darum «How did we not get here?» oder «How can we ever get here?». Es geht darum, wie wir je zusammenkommen können. Ausser einer Woche in Finnland haben wir zwei uns während der gesamten Zusammenarbeit nie live gesehen.

Journal B: Wie beeinflusst das euer Schaffen?

Adib: Ausser dieser Woche in Finnland haben wir nur online zusammengearbeitet. Wir haben uns auf Zoom getroffen, auf Skype, auf WhatsApp und in vielen anderen Apps, aber wir konnten uns nie Face to Face sehen. «The Voice of Fingers» erklärt das: wieso können wir uns nicht sehen, was ist da das Problem? Und wer kreiert dieses Problem?

Auch zwischen euch beiden gibt es eine grosse Ungleichheit, inwiefern ihr euch bewegen könnt oder nicht.

Bellinck: Dass wir uns nicht sehen können, ist wirklich der Kern der Geschichte. Und es ist wichtig hier über die Ungleichheit zu sprechen: das ist ein grosser Unterschied, zum Beispiel zu einer Covid-Performance. Während Covid haben auch viele Leute angefangen, online zusammenzuarbeiten. Aber diese Online-Zusammenarbeit war meistens gleichberechtigt: Alle waren blockiert und versuchten, im digitalen Raum zusammenzukommen. In unserem Fall ist das anders, weil nur jemand von uns blockiert ist. Wir haben die meiste Zeit in Belgien geprobt. Du, Reza, bist also die einzige Person, die nicht dort sein konnte. Das hat den ganzen Prozess beeinflusst, aber auch den Inhalt des Stückes. Es geht um die Kreation von struktureller Ungleichheit durch Mobilität oder eben der Blockierung von Mobilität. Und darum, wie und ob man dann trotzdem zusammenarbeiten kann: Wir haben geprobt, und haben die Proben gefilmt und sie dann an Reza geschickt und er hat uns Feedback gegeben. Wir schrieben gemeinsam an einem Onlinedokument im Pingpong. Wir versuchten, praktische Lösungen zu finden für ein Problem, das nicht praktisch ist, sondern politisch.

Dieser unsichtbare Rassismus ist nur für die einen unsichtbar, während die anderen ihn die ganze Zeit sehen.

Adib: Der Grund wieso ich blockiert bin, ist eben nicht Corona, es ist Rassismus. Es gibt eine weitere Parallele zwischen Covid und Rassismus. Ich habe mit Thomas viel darüber gesprochen, denn wenn du es nicht selbst fühlst, ist es schwierig zu verstehen. Bei Corona gibt es auch Leute, die keine Symptome haben, und trotzdem infiziert sind. Beim Rassismus ist es genauso. Es äussert sich nicht immer direkt, dass eine Person sagt: Du bist Schwarz oder du bist eine geflüchtete Person, ich will dich nicht sehen. Aber es ist vielleicht trotzdem in ihrem Kopf, dass sie dich nicht sehen will. Sie haben keine Symptome, aber sie sind «krank». Das sind die Ähnlichkeiten zwischen den Fällen.

Und ihr habt ein Stück über eine wirklich unsichtbare Form des Rassismus gemacht, über strukturellen, institutionellen Rassismus. Wie macht man das auf einer Bühne sichtbar?

Bellinck: Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit werden immer als Gegensatz bezeichnet. Aber dieser unsichtbare Rassismus ist nur für die einen unsichtbar, während die anderen ihn die ganze Zeit sehen. Das ist schwierig auf einer Bühne zu zeigen, weil alle Leute, die auf der Bühne sind, bereits in einer anderen Position sind als einer der zwei Autoren des Stücks. Denn sie können auf der Bühne sein, sie können reisen und das Stück präsentieren. Die Spielenden sind eine Art Interface, weil wir ja nicht beide dort sein können. Es ist zwar ein persönlicher Dialog zwischen uns, das Stück, trotzdem müssen die Spielenden nicht uns spielen. Sie sind eher ein Fenster.

Adib: Ich finde auch, dass die Schönheit des Projekts gerade darin liegt, dass ich eben nicht dort sein kann, wo das Stück gezeigt wird. Als Autor dieses Stückes möchte ich natürlich dort sein. Aber als Journalist, der einen Einfluss haben will auf die Welt, denke ich, dass es noch mehr Kraft hat, dass ich eben nicht dort bin. Wenn die Leute die Realität sehen wollen, dann ist das die Realität, wie sie ist.

Wieso machst du denn als Journalist Theater? Was ermöglicht dir das?

Adib: Ehrlich gesagt, sehe ich keinen grossen Unterschied zwischen diesen verschiedenen Disziplinen, sei es Theater, Kino, Fotografie, Journalismus. Mir geht es darum, eine Geschichte zu erzählen. Manchmal kann man das mit einem Bild. Manchmal braucht man eine Stunde, manchmal viel länger. Für mich ist zentral, eine Geschichte zu teilen, damit sie nachvollziehbar wird. Auch hatte ich immer das Problem, dass wenn ich einen Artikel über Migration, über Flucht oder Asyl schreiben wollte, man mir immer gesagt hat, ich müsse mit Expert:innen sprechen. Also mit Menschen, die zufrieden in ihrem Zuhause sitzen und frei sind von der Gewalt, die sie studieren. Meine Erfahrung, als jemand, der dies selbst erlebt, zählt nichts. Wenn ich jemandem sage: das, was ich da erlebe, ist gewaltvoll, dann glaubt man mir nicht. Nur das akademische Wissen zählt. Ich finde das lächerlich.

Es geht euch also darum, andere Formen von Expertise hörbar zu machen?

Bellinck: Akademische Expertise baut auf einer imperialistischen Idee von Neutralität auf, die besagt, dass wenn du in einer spezifischen Position von Macht bis, dann kannst du herauszoomen und die Welt erklären. Als wärst du nicht Teil von ihr. Bei jedem Projekt, das wir durchführen, streben wir trotz der vielen rechtlichen Hürden danach, die Menschen für ihren Beitrag zu bezahlen, unabhängig von der Art ihres Fachwissens. Für ein früheres Projekt haben wir eine künstlerische Zusammenarbeit mit Menschen aufgebaut, die in einem griechischen Lager festsitzen. Ein paar Leute – weisse Europäer wie ich – fragten mich, ob nicht die Gefahr bestehe, dass Leute Geschichten erfinden, um bezahlt zu werden. Ich wurde wütend. Das ist doch genau das, wofür ich als weisser Künstler immer bezahlt werde: für das Geschichtenerfinden. Wenn wir schon über die Freiheit, sich bewegen zu können, sprechen: Ich glaube, es geht hier auch um eine Freiheit, Geschichten erzählen zu dürfen.

Es ist für mich, als hätte ich überall, wo ich eine bedeutende Erinnerung gemacht habe, ein Stück meiner Seele gelassen, und jetzt kann ich dieses Stück nicht mehr erreichen.

Adib: Und im Asylverfahren ist es ja genauso: Es wird dir nicht geglaubt, du musst alles beweisen. Deine Sicht zählt nicht. Es ist schlimmer als in einem Strafverfahren, denn dort gilt immerhin das Prinzip, dass du im Zweifel unschuldig bist. Es ist auch paradox: Die Organisation, die dazu da sein sollte, dir zu helfen, also das Amt für Migration, ist heutzutage die Instanz, die dich kontrolliert, der gegenüber du dich rechtfertigen muss, die dich möglicherweise abweist. Aber an wen sollst du dich denn sonst wenden? Es gibt niemand, der dir hilft.

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Ihr sprecht in diesem Stück von Fingerabdrücken und wie sie dem Grenzregime zusammenhängen. Ist das ein Weg, den abstrakten institutionellen Rassismus durch diese Verbindung mit Körpern auf eine Bühne zu bringen?

Adib: Ja, auch wenn es für mich nicht wirklich um physische Körper geht, es geht vielmehr um die Seele. Was ich mit meiner fehlenden Reisefreiheit einbüsse, heisst das nicht nur, dass ich mich als Körper nicht bewegen kann. Es ist für mich, als hätte ich überall, wo ich eine bedeutende Erinnerung gemacht habe, ein Stück meiner Seele gelassen, und jetzt kann ich dieses Stück nicht mehr erreichen. Etwa, als ich meinen Fingerabdruck abgeben musste. Das verletzt mich ja nicht körperlich. Aber es ist trotzdem ein Einschnitt, eine Kontrolle. Vielleicht wenn ich eines Tages zurück an den Flughafen in Deutschland kann, oder in den Iran oder in die Türkei, dann kann ich diese Seelenteilchen wieder einfangen.

Bellinck: Man könnte sagen, die Körper selbst sind die Grenze geworden, weil als solche ist sie ja im Raum gar nicht mehr sichtbar. Aber wenn dein Fingerabdruck aufgenommen ist, dann bist du registriert und wirst kontrolliert. Früher hat man Leute gebrandmarkt, um sie aus der Gesellschaft auszuschliessen. Die Fingerabdrücke sind viel subtiler: Es ist der Körper selbst, der zum Überwachungsmittel wird. So setzt sich das rassistische Grenzsystem im Körper fest. Wir erzählen deshalb diese Geschichte über Grenzregimes anhand von sieben Fingerabdrücken, die Reza geben musste. Und trotzdem ist es nicht unbedingt Rezas persönliche Geschichte: es geht um das ganze System, welches ihr zugrundeliegt.

(Foto: © Studio Pramudiya – Nathan Ishar)