Die Bewegungsfreiheit

von Basrie Sakiri-Murati 26. Februar 2022

Isolation: Menschen in der Schweiz haben den Begriff in den letzten Monaten erstmals schmerzlich erfahren. Bei unserer Kolumnistin weckte er Erinnerungen.

Ich habe meine Bewegungsfreiheit drei Mal verloren: das erste Mal im Frühling 1989, als ich mich für siebenundachtzig Tage im Untergrund verstecken musste; das zweites Mal im Herbst 1989 als ich in der Asylunterkunft für neunzig Tage sehr eingeschränkt war, und das dritte Mal im Januar dieses Jahres, als ich wegen Corona für sieben Tagen in der Isolation bleiben musste. Drei verschiedene Situationen, die aber etwas gemeinsam hatten: den Freiheitsentzug.

Die Bewegungsfreiheit ist für die Frauen, die in einer patriarchalischen Gesellschaft leben, am strengsten. Dies kann ich bestätigen. Weil ich in einem Dorf mit patriarchalischer Mentalität aufgewachsen bin, war ich sehr eingeschränkt. Meine Bewegungsfreiheit – wie auch jene aller jungen Mädchen meines Dorfes – hatte nur eine Richtung: von Zuhause zur Schule und wieder zurück. Obwohl ich jeden Tag durch die Stadt zur Schule ging, durfte ich weder in einen Laden noch in die Apotheke, geschweige ins Kino oder ins Theater gehen, und auch nicht an Konzerten oder an anderen kulturellen Aktivitäten ausserhalb der Schulzeit teilnehmen.

Doch die schlimmste und längste Einschränkung war für mich die Zeit im Frühling 1989. Damals war ich aktiv für einen unabhängigen Kosovo. Deshalb  wurde ich von der Regierung gesucht. Ich musste mit Gleichgesinnten in den Untergrund flüchten, damit wir von den Sicherheitsbehörden nicht verhaftet werden konnten. Die Lage war sehr unruhig, deshalb waren wir überzeugt, dass sich in der nahen Zukunft etwas ändern solle. Doch die nahe Zukunft dauerte Monate, ja Jahre. Während meiner Zeit im Untergrund durfte ich mich nur in der Nacht und bei Dunkelheit bewegen. Oft kam ich in Stress, weil ich während der Dunkelheit den nächste Unterkunftsplatz nicht fand. Einmal verbrachte ich den ganzen Tag in einem Gebüsch, weil ich Angst hatte, von Dorfbewohnern, der Polizei oder von Strassenhunden entdeckt zu werden.

Eine andere Art der Bewegungsfreiheit erlebte ich in der Asylunterkunft, unmittelbar nachdem ich in die Schweiz kam. Während der Woche durften wir das Areal des Heims nicht verlassen, ausser wenn wir zum Arzt gehen mussten. An den Wochenenden durfte ich weg gehen, aber das Geld, welches ich zur Verfügung hatte, reichte nur für die Hinfahrt. Also blieb ich meistens vor Ort und bewahrte das Geld für eine Telefongespräch mit meinen Verwandten auf.

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Die Pandemie schränkte mich auch ein. Einige Lesungen von mir wurden verschoben oder annulliert. Seit zwei Jahren konnten keine neuen Lesungen mehr festgelegt werden. Zum Teil haben auch die Kontakte zu meiner Familie, zu Freunden und Bekannten gelitten. Die Isolation nach meiner Ansteckung war dann eine totale Aussetzung der Bewegungsfreiheit.

Obwohl ich mich nur für sieben Tage in meiner Wohnung einschliessen musste, fühlte ich mich in die Zeit vor mehr als dreissig Jahren zurückversetzt. Ich war gut versorgt und ich konnte sogar auf meinem Balkon verweilen. Trotzdem war es eine neue Erfahrung, die ich nicht so schnell wieder vergessen werde: Das Gefühl der eingeschränkten Freiheit.