Die Berner Westside ist noch kein Eldorado für Familien

von Anne-Careen Stoltze 23. November 2012

Bern wächst im Westen immer weiter. Aber im neuen Quartier leben längst nicht so viele Familien und Kinder, wie die Stadtplaner erhofft hatten. Das könnte bald ändern, wenn die neue Kita und das Schulhaus eröffnen.

Der Petitpierreweg führt ins Nichts. Er endet abrupt vor einer Baugrube. Auch der Vallottonweg hört im Nirgendwo auf. Gleich nebenan recken sich die Bauprofile in den nebelverhangenen Himmel. Hier sollen ab 2014 weitere Häuser entstehen. Weiter in der Metamorphose ist das Baufeld gegenüber. Hier lärmen Bagger und Kran auf einer Grossbaustelle. Auch vier Jahre nach der Einweihung des Westside und der ersten Wohnblöcke ist Brünnen noch im Werden. Wie lebt es sich auf der Dauerbaustelle?

Weniger Familien als erhofft

An den Baulärm hat sich Christian Koch längst gewöhnt. Der Präsident des Quartiervereins Brünnen (QVB) lebt gerne und seit bald fünfzig Jahren im Stadtteil VI. «Wir sind zwar weit weg vom Zentrum, aber mit der S-Bahn sind wir schnell da, das Einkaufszentrum ist sehr gut zu erreichen und wir sind ganz nah am Grünen», sagt Koch. «Der Westen boomt», sagt Regula Buchmüller, die Chefin der Berner Stadtentwicklung, an einem Podiumsgespräch des Forums Bethlehem. Etwa die Hälfte der geplanten Wohnungen ist gebaut, drei Baufelder warten noch auf ihre Entwürfe. Dank dem Tram sei der Stadtteil VI bestens erschlossen und noch attraktiver geworden. «Ein Drittel aller Berner Kinder leben in Bethlehem.» Die Einwohnerzahlen seien über die vergangenen Jahre relativ konstant zwischen 31 000 und 33 000 geblieben oder sogar gewachsen. Neben dem Wohnungsbau sei der Brünnenpark mit dem Brünnengut «eine Erfolgsgeschichte», sagt Buchmüller.

«Wer will schon in eine Wohnung investieren, die im Nirwana zwischen Erdhaufen und Baustelle steht?»

Danièle Gottier, Geschäftsführerin Baugenossenschaft Brünnen-Eichholz

Doch trotz der guten Entwicklung warten im Westen noch genug Hausaufgaben auf die Stadt – zum Beispiel eine gute Durchmischung. Einerseits wollten die Leute bisher lieber mieten als kaufen. «Das kann ich verstehen, denn wer will schon in eine Wohnung investieren, die im Nirwana zwischen Erdhaufen und Baustelle steht. Nach kurzer Zeit hatten wir 95 Prozent der Wohnungen vermietet», sagt Danièle Gottier. Die Geschäftsführerin der Baugenossenschaft Brünnen-Eichholz ist im Mädergut aufgewachsen und hat während ihrer Kindheit eine Tour d’Horizon durch Berns Westen gemacht.

«Das neue Schulhaus wird matchentscheidend sein.»

Regula Buchmüller, Leiterin Stadtentwicklung

Andererseits wohnen längst nicht so viele Familien in den Drei- und Vierzimmerwohnungen wie erhofft. «Oder sie sind wieder weggezogen», sagt Gottier. «Im neuen Quartier leben weniger Kinder als gewünscht», bestätigt Buchmüller. Grund ist das noch immer fehlende Schulhaus. «Das soll im Schuljahr 2014/15 in Betrieb genommen werden», verspricht Buchmüller. Brünnen ist noch nicht das Mittelstandsquartier, wie es die Stadtentwicklerin gerne hätte. «Das Schulhaus wird matchentscheidend sein.» Schon im kommenden Jahr eröffnen wird die neue Kindertagesstätte auf dem Brünnengut, die derzeit noch saniert wird.  

Kritik am Chapponière-Park

Neben dem Schulhaus vermissen die Quartierbewohnerinnen belebte, öffentliche Orte. «Wir haben keine echten Plätze», sagt eine Frau aus dem Publikum. Die Wohngebiete seien in sich zu sehr geschlossen. «Es fehlt ein Begegnungszentrum wie ein Kiosk oder ein Café im Park.» Auch Urban Gardening könne sie sich sehr gut vorstellen. Auch eine weitere Votantin, Mutter zweier kleiner Kinder, vermisst einen Treffpunkt. «Wie wäre es zum Beispiel am Bauernhaus im Brünnenpark?»

Das Thema öffentliche Plätze und Grünanlagen scheint auch aus architektonischer Sicht ein wunder Punkt in Brünnen zu sein. Der Architekt Jürg Sollberger hat sie bei einem Rundgang durchs Quartier in Augenschein genommen. «Es gibt gelungene und weniger gelungene Ecken», sagt der Präsident des SVW Bern-Solothurn. Positiv sieht er den Le-Corbusier-Platz: «Die Baumallee mit Bänken und Brunnen lädt zum Verweilen ein, der Säulengang verbindet die Gäbelbach-Blöcke und das Westside.» Geglückt ist aus seiner Sicht zudem der Brünnenpark.

Missglückt sei hingegen der Gilberte-de-Courgenay-Platz am S-Bahnhof Westside. Der Verkehrsknotenpunkt sei kein Ort zum Verweilen. Das Zusammensein von Hotel und Einkaufszentrum findet Sollberger «seltsam» und besonders unschön sei der Eingang von dieser Seite zum Westside: «ein Mauseloch».

«Beim Chaponnière-Park ist alles falsch gemacht worden.»

Jürg Sollberger, Architekt

Harte Worte findet der Architekt, der selbst nicht an Brünnen mitgewirkt hat, auch für den Chaponnière-Park: «Dabei ist alles falsch gemacht worden.» Er begründet: «Die Bepflanzung ist dürftig, die Wegführung ungünstig; es ist ein leerer Raum, den man nicht nutzen kann.» In zehn Jahren werde der Stadtteil sicherlich einheitlicher wirken, wenn die Bäume gewachsen sind, glaubt Sollberger.

Das Bauen wird in Brünnen aber noch lange weitergehen. Kaum dass die Hälfte der Wohnungen für gesamthaft 2600 Menschen realisiert ist, stehen Renovationen an – bei den Wohnblöcken im Gäbelbach, im Bethlehemacker und im Tscharnergut.